Schriften im Stadtbild von Wien bis Berlin
Am Dienstag, dem 12. Juni 2018 erreichte mich nachmittags ein Anruf: ein «typografischer Notfall» – die gigantische Aufschrift huber werkzeug hilft!, die jahrzehntelang an der Fassade des Hauses Grohgasse/Ecke Schönbrunner Straße im 5. Bezirk prangte, wird demontiert! Was tun?
Foto: © Natalie Deewan
Mein erster Gedanke nach dem Anruf war: Wir müssen den Verein Stadtschrift anrufen! Mein zweiter: Wir müssen die Buchstaben selber retten. Vor Ort zeigte sich, dass bereits ein Großteil der meterhohen, blauen Metallbuchstaben mit Plexiglasfronten und gebogenen Neonleuchten dahinter am Vorplatz lagerte – unbeschädigt. Dies war der Geistesgegenwart eines Nachbarn zu verdanken, der den Demontagekran rechtzeitig bemerkte und die Monteure dazu bewegen konnte, das Letterngut nicht mit Karacho auf die Pick-up-Ladefläche zu befördern und zu verschrotten, sondern es mit genoppten Samthandschuhen zu übergeben.
Vielleicht hätte ja das werkzeugH, sein Stammlokal, das seit Dezember 2006 in den Räumlichkeiten des ehemaligen Fachbetriebs Werkzeug Huber beheimatet ist, dafür Verwendung? Hat es! Noch während die letzten Stücke von der Fassade geflext wurden, entspann sich eine rege Diskussion, in welcher neuen Kombination die Buchstaben nach ihrer LED-Revitalisierung denn wiederauferstehen sollten. Es war wie auf einem Begräbnis: alle waren betrüblich mitanzusehen, wie diese städtische Landmark Letter um Letter von der Bildfläche verschwand, gleichzeitig spülten wir die Trauer mit Schnaps hinunter und übten uns in Anagrammatik: werkzeugH → kreuzwehG!
Nicht nur Buchstaben
Nicht immer läuft es so glimpflich ab. Oft landen die metallenen Zeitzeugen einer individuelleren Geschäftskultur auf dem Friedhof der namenlosen Altstoffverwertung. «Sind ja nur Buchstaben.» Zurück bleiben schemenhafte Umrisse an der Fassade, Letternschatten oder Ghostletters, wie Tom Koch die «Spuren urbaner Identität» in seinem 2016 erschienenen Fotoband nannte. Mit der Verdrängung alteingesessener Kleinbetriebe durch Handelsketten verändert sich auch die typografische DNA der Stadt. Damit dieses Wiener Kulturerbe jedoch nicht auf dem Müll landet, formierte sich bereits 2012 der Verein Stadtschrift. Der Bezug auf das gleichnamige literarische Foto-Buch von Bodo Hell aus dem Jahr 1983, das durch den «Schriftlärm» der Stadt pflügt und Schriftbilder auf einer Doppelseite miteinander ins Zwiegespräch zwingt, ist vielen wahrscheinlich erst durch die farblich wie inhaltlich erweiterte Neuauflage in der Bibliothek der Provinz 2015 wieder präsent.
Roland Hörmann und Birgit Ecker betreiben den «Verein zur Sammlung, Bewahrung und Dokumentation historischer Fassadenbeschriftungen» aus Leidenschaft und Notwendigkeit – ehrenamtlich versteht sich, doch gleichzeitig hochprofessionell: Denn nicht immer spielt der Zufall mit, wie bei der Werkzeug-huber-Demontage. Deshalb versuchen sie, möglichst schon im Vorfeld (ehemalige) Geschäftsbetreiber_innen, Eigentümer_innen oder Hausverwaltungen potenzieller Objekte zu kontaktieren, so dass die typografisch wie handwerklich anspruchsvollen Schriftzüge im Fall des Falles nicht der Verschrottung zum Opfer fallen. Mittlerweile zählt die Sammlung rund 100 Fassadenbeschriftungen unterschiedlichster Produktionstechniken und Epochen, großteils aus dem Raum Wien.
Im September 2014 konnte auf einer Feuermauer des Gymnasiums in der Kleinen Sperlgasse 2c im 2. Bezirk die erste Mauerschau eröffnet werden. Dabei handelt es sich um ein typografisches Museum im öffentlichen Raum, das 13 Geschäftsaufschriften aus dem Depot wieder an die frische Luft und davon vier Neonschriftzüge (Gas, Elektro, Papier, Coiffeur) auch wieder zum Leuchten gebracht hat. Bald hat es sich aber leider ausgeleuchtet, die Baulücke schließt sich, und damit schließt auch das Freilichtmuseum urbaner Schriftkultur an diesem Standort. Wer diese einzigartige typografische Mauerschau also noch sehen möchte, muss sich beeilen.
Frauenmauer
In der Zwischenzeit haben Hörmann und Ecker, die inzwischen auch einen wunderschönen Indoor-Schauraum in der Liniengasse 2a im 6. Bezirk eingerichtet haben, aber schon an einer zweiten Mauer gebastelt: Das neue Projekt ist eine reine «Frauenmauer» und besteht aus zehn renovierten Nachkriegsschriftzügen mit weiblichen Vornamen auf einer Feuermauer in der Hofmühlgasse/Ecke Mollardgasse: Mona, Lisa, Lieselott, Gitti, Petra, Mariandl, Yasmine, Gabriela, Thalia (von der Apotheke) und Urania (vom Kaffee Urania) sollen dort ab September 2018 ihr zweites Leben in der Öffentlichkeit beginnen. Sämtliche Bewilligungen sind vorhanden, die Crowdfunding-Kampagne hat soeben ihr Ziel von 10.000 Euro erreicht.
Was in Wien dank des zähen Einsatzes einiger weniger «Letterlovers» Wirklichkeit geworden ist, nämlich die Schriftzüge wieder in ihr natürliches Habitat, den Stadtraum, zurückzubringen, hat Berlin noch vor sich. Dort existiert zwar bereits seit 2005 das Buchstabenmuseum, das erste seiner Art, gegründet von Anja Schulze und Barbara Dechant, einer gebürtigen Wienerin. Die Realisierung einer interaktiven «Berlin Type Wall» mit einzelnen, teilweise beleuchteten Buchstaben aus dem Berliner Stadtbild, erwies sich aber als äußerst schwierig. Auch dort fällt die Beschäftigung mit Stadt- und Designgeschichte anhand von Typografie des öffentlichen Raums durch alle Förderraster und bleibt so ein Liebhaber_innenprojekt, das mittlerweile fünf Mal umgezogen ist (Stichwort: Zwischennutzung!) und derzeit wegen Umbau geschlossen hat. Auch hier wurde versucht, mittels Crowdfunding den Erhalt der riesigen Sammlung, die Archivierungsarbeit und den Umbau des neuen, hoffentlich längerfristigen Standortes im Stadtbahnbogen 424 zu finanzieren; im Herbst 2018 sollen die rund 2000 Exponate wieder zugänglich sein. Gesammelt wird hier nicht nur, was jetzt bereits als «historisch» angesehen wird, sondern «unabhängig von Alter, Herkunft und Schriftart». Denn, so Barbara Dechant, oft sei, was momentan nicht weiter interessant erscheine, in zehn, zwanzig Jahren eben schon wieder kulturgeschichtlich relevant. Nachdem das Buchstabenmuseum bereits sehr bekannt ist, melden sich manchmal auch die Inhaber_innen selbst bei Geschäftsschluss mit ihrem typografischen Nachlass, was auf ein gestiegenes Bewusstsein hindeutet. Gleichzeitig kommt es natürlich immer noch vor, dass trotz frühzeitiger Kontaktaufnahme und regelmäßiger Beobachtung Wunschkandidaten von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden sind – ob «eigenhändig privatisiert» oder einfach nur «fachgerecht entsorgt», bleibt offen.
Womit wir wieder beim Notfall wären: Rettet die Buchstaben! lautet das Motto des Vereins Stadtschrift und richtet sich damit an alle aufmerksamen Flaneur_innen, denen sich die eisernen Tattoos der Stadt unter die Haut gebrannt haben und die sie nicht auf dem Recyclingfriedhof enden sehen wollen. Eine richtige «Abgabestelle» hält die Innsbrucker Grafikerin und «ABC-Schützerin» Karen Gleissner bereit, die vor 15 Jahren begonnen hat, demontierte Schriftzüge zu sammeln und seither in einem «Typostadl» ihr stetig wachsendes *Buchstabenarchiv* beherbergt. Auch sie plant eine Mauerschau mit ausgewählten Exponaten aus ihrer Sammlung, an einer Wand der Innsbrucker Kommunalbetriebe.