U-Bahn-Stars auf ArbeitsmigrationArtistin

Bibliotick

Wladimir Alexandrowitsch Kolenko aus der russischen Kleinstadt Jessentuki hat sein Akkordeon bisher «in den musikalischen Kollektiven von Sanatorien» in Kislowodsk und Pjatigorsk gespielt. Aber weil die Genoss_innen nach 1990 ihre Kuranstalten nicht mehr frequentieren, sucht Kolenko sein pekuniäres Glück anderswo. Namentlich in den U-Bahn-Stationen von Berlin.

Zwischen dem Anstellen um Platzkarten bei den Berliner Verkehrsbetrieben und jenem um ein Visum in der Moskauer Botschaft erzählt Marie-Luise Scherer die Geschichte der prekären Ost-West-Arbeitsmigration in den ersten Nachwendejahren.

Im Interview wurde Scherer einmal gefragt, was schwerer sei – Journalismus oder Schriftstellerei: «Zurzeit versuche ich mich an einem Roman, und manchmal meine ich, das sei leichter, weil Sie beim Roman keine Rücksicht auf Zeugen zu nehmen haben.» Im «Akkordeonspieler» hat man allerdings nicht den Eindruck, die Autorin würde «keine Rücksicht auf Zeugen» nehmen – zu präzise ist ihre Art, ein Gefühl für Orte, Menschen und Verhältnisse zu erzeugen. Und auch sprachlich ist die Erzählung ein Wunderwerk, nicht einen Halbsatz lang ruht sich Scherer auf Füllwörtern aus, scheint jeden einzelnen Buchstaben genau zu wählen. Wohnt man Zelda Gladkichs Bat Mitzwa bei, ist man trotz größtmöglichem Klassenunterschied an Upton Sinclairs litauische Hochzeit im Fleischereibezirk von Chicago erinnert; dann wieder erscheinen Michail Bulgakows flanierende Charaktere auf den ersten Metern von «Der Meister und Margarita» vor dem geistigen Auge der Leserin, wenn Kolenko und sein neuer Freund Karbatin jede Straßenecke von Moskau mit fantastischer Geschichte füllen.

Mit «Wahre Geschichten aus vier Jahrzehnten» ist die über 400 Seiten dicke und mittlerweile vergriffene Prosasammlung untertitelt, in der «Der Akkordeonspieler» vor 13 Jahren zum ersten Mal erschien. 2013 hat Matthes & Seitz daraus «Die Hundegrenze» – eine Erzählung über eine Gruppe von Wachhunden im «Grenzdienst» zwischen DDR und BRD – als eigenes Büchlein publiziert, 2017 nun auch die Erzählung vom ­U-Bahn-Star Kolenko.

Marie-Luise Scherer:

Der Akkordeonspieler

Matthes & Seitz 2017

142 Seiten, ca. 16 Euro