Über die lächerliche Körperlichkeit des SeinsArtistin

Das flüssige Land – So der Titel des ­Debütromans von ­Raphaela Edelbauer, mit dem sie für den ­Deutschen Buchpreis nominiert ist. ­Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Foto) haben die Ausnahmeliteratin und Ausdauersportlerin an mehreren Orten in Wien getroffen.

Ein Mann mittleren Alters, der einen Kurzhaardackel an der Leine führt, bleibt für einige Minuten in Verwunderung stehen, bevor er seinen gewohnten Kontrollgang durchs Rudolfsheimer Grätzl kopfschüttelnd fortsetzt. Die Geschehnisse am Fuß der Stiege, die von der äußeren Mariahilfer Straße zum Schwendermarkt hinabführt, sind ihm nicht geheuer. Am bislang heißesten Tag des Jahres, einem Samstag im Juni, hat sich eine junge Frau in leuchtenden Radlerhosen und einem Oberteil, das ihre gewaltige Rückenmuskulatur freilegt, vornüber gebeugt auf einer Trainingsbank eingerichtet.
Knapp über dem flimmernden Asphalt hebt sie zwei Fünf-Kilo-Kurzhanteln in einer Halbkreisbewegung immer wieder rechts und links auf Höhe ihres blonden Pferdeschwanzes empor, während sie komplizierte Sätze überbetont in ein Funkmikrofon spricht. Raphaela Edelbauer, die im vergangenen Jahr mit schwarzer Hornbrille den Publikumspreis der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur entgegennahm, gibt heute Literazah, eine, so nennt sie es selbst, Extremperformance.

Schmerz als literarisches Programm.

Das Konzept der Aufführung folgt der Logik der literarischen Montage. Edelbauers 80-minütiges Zirkeltraining in der Freiluftkraftkammer begleiten Kurztexte, die sich um Körperkult und Körperschändungen, um Nahrungsergänzungsmittel, Rausch, Reliquien und Askese drehen. Die meisten davon hat die Autorin in der vergangenen Woche auswendig gelernt, einige klebt sie in den kurzen Verschnaufpausen mit Tixostreifen an der Langhantelstange fest.
Im überschaubaren Publikum schlägt die Stimmung von Bewunderung in Erschaudern um, als Edelbauer bei der Märtyrerwerdung des mittelalterlichen Mystikers Heinrich Seuse angelangt ist. «Um die Passionen Christi besser nachvollziehen zu können, um sich das irdische Leben nach und nach von der unsterblichen Seele zu schaben», keucht sie, «ließ er sich scharfe Nägel in sein Untergewand einweben, die sein Fleisch bei jeder Bewegung penetrierten. Er ließ sich Flöhe in sein Bett setzen, die ihn während der Nacht peinigten, und schlief mit Handschuhen, die innen mit scharfen Splittern besetzt waren.»
Nein, hat Edelbauer einem Besucher nach der Performance bemüht freundlich erklärt, sie würden sich niemals in einem Fitnesscenter zufällig oder geplant über den Weg laufen. «Mein Ziel war es, die Lesungssituation zu persiflieren», sagt sie nun. «Es ist doch per se idiotisch, lauter alphabetisierten Menschen aus einem Text vorzulesen. Also geht es allein um die Präsenz des Autorinnen-Körpers auf der Bühne. Wie sehr kann man die steigern? Ärger als in Literazah geht es, glaube ich, nicht.» Aus der dreistündigen Originalfassung, die Edelbauer zwei Jahre zuvor im Wiener Literaturhaus zur Uraufführung gebracht hat, ist für das Wir sind Wien. Festival 2019 eine relative Light-Version entstanden. Edelbauer kommt das insofern zupass, als ihr vor einigen Wochen das rechte Knie seinen Dienst versagte. Die 29-jährige Wettkampfruderin hat seitdem nicht mehr im Boot gesessen.
«Ich habe mir eben eine Kortisonspritze verpassen lassen», sagt Edelbauer drei Tage später, kurz bevor sie auf dem Währinger Kutschkermarkt zwischen den Fischplatten und Aperol-Spritzern der Gutbürgerlichen eine Liste der gängigsten Dopingmittel ins Mikrofon stöhnt. Was ihr hier ebenso wenig wie zuvor in Rudolfsheim-Fünfhaus einleuchten will: warum niemand gelacht habe, nicht einmal bei den Videoeinspielungen. Viel stärker aber als die Wirkung ihres Alter Egos auf dem Plasmabildschirm, Lea von Knirps-Schweibersteins, einer einsamen, Derrida rezitierenden Künstlerin mit Alkoholproblem, ist die Ausstellung von Edelbauers Getriebenheit, ist die Selbsterniedrigung im sportlichen Akt, der, wie immer ihn Edelbauer dreht und überhöht, ein ernsthafter bleibt.

Absurditäten im System.

«Schauen Sie», sagt Edelbauer an einem späten Freitagabend Mitte Juli im Café Alt-Wien. «Unser Körper ist dafür gemacht, sich acht Stunden am Tag zu bewegen, und nicht dafür, acht Stunden am Tag am Schreibtisch zu sitzen.» Außerdem helfe ein Trainingsplan sowohl gegen die typische Strukturlosigkeit des Künstlerinnendaseins als auch gegen die gefährlichen Spiralbewegungen ihrer Angststörung. Ihre markantesten Eigenschaften, sagt Edelbauer, und meint damit ihren Hang zu Fremdwörtern und zum Intellektuellen, hätten sie damals im Sportgymnasium in Maria Enzersdorf zur Empfängerin täglichen Mobbings gemacht.
Innerhalb der Wiener Literat_innenszene, die sie als 18-Jährige mit dem Beginn ihres Sprachkunst-Studiums an der Universität für angewandte Kunst betrat, mühte sich Edelbauer daher vorsorglich, ihre Sportaffinität zu verstecken. «Es war lange mein peinliches Geheimnis, dass ich jeden Tag trainiert habe», sagt sie. Noch heute würden ihr von anderen Autor_innen ihre weitgehende Abstinenz von Alkohol und Zigaretten vorgehalten. Nur, so scheint es, machen Edelbauer die Versuche der Beschämung ihrer persönlichen und künstlerischen Integrität inzwischen weniger aus. Auch ihrer Erfolge, auch der Siege wegen.
Edelbauer hat mit ihrem Prosadebüt ­Entdecker, einer existenzphilosophischen Poetik, 2017 den Hauptpreis der Rauriser Literaturtage gewonnen. Im vergangenen Jahr kam der Theodor-Körner-Preis hinzu. Für ihren ersten Roman Das flüssige Land, der sich Groß-Einland, eine prototypische österreichische Dorfgemeinschaft, und deren Verdrängung der Nazi-Vergangenheit vorgenommen hat, erhielt Edelbauer vom deutschen Verlag Klett-Cotta eine Vorauszahlung im hohen fünfstelligen Bereich. «Raphaelas Art von Kunst habe ich immer für ein Nischenprodukt gehalten», sagt der bildende Künstler Simon Goritschnig, der die Zeichnungen für die Entdecker lieferte, am Telefon. «Dass sie, ohne sich verbiegen zu lassen, zu Ruhm kommt, gibt mir ein neues Vertrauen in die Welt.»

Weltmeisterin außerhalb Österreichs.

Im Heimatland Edelbauers, die in Hinterbrühl im Bezirk Mödling aufwuchs, ist die Sache freilich eine andere. «Ich habe von Österreich noch nie eine öffentliche Förderung bekommen, nicht einmal das Startstipendium.» Dabei betrachte sie sich selbst massiv als österreichische Schriftstellerin, sagt sie, und sei ebenso beeinflusst von der Wiener Gruppe wie von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard. Ihre Nominierung für den Österreichischen Buchpreis ist Genugtuung, und wieder nicht. Zumal Literatur, sagt Edelbauer, anders als Sport, nicht eindeutig quantifizierbar sei. «Ich habe zwei Grundsatzängste: entweder sehr viel zu können und dafür niemals die Anerkennung zu bekommen, die ich verdiene, oder nichts zu können und dafür zu viel Anerkennung zu bekommen.» Jedes Feedback der Außenwelt, sagt sie, könne als Zeichen von beidem gedeutet werden.
Die Präsentation des Flüssigen Landes im Wiener Literaturhaus am 25. September ist so gut besucht, dass im Nebenraum eine Leinwand zur Live-Übertragung aufgebaut worden ist. Mit der doppeldeutigen Zuschreibung «fantastische Literatur» hat die Jury des Deutschen Buchpreises in der Zwischenzeit die Platzierung des Romans auf der Shortlist begründet. Edelbauer hat die Präsentation als Versammlung der Gemeinde Groß-Einlands konzipiert und hält sich, ernst im Ausdruck, nicht mit Dankesworten oder anderen improvisatorischen Peinlichkeiten auf. Die ersten Sätze, die von ihr an diesem Abend zu hören sind, sind so anmaßend und grundsätzlich, wie es sich ihre Anhänger_innenschaft erwartet: «Was fiktiv ist, muss nicht erfunden sein. Lassen Sie mich Ihnen auf die Sprünge helfen.» Am Ende der Präsentation steht die von einem dröhnenden Kurzfilm Goritschnigs begleitete Beschreibung davon, wie 200 KZ-Häftlinge durch Benzininjektionen in ihre Herzen und Lungen dahinsiechen.

Stille.

Die elaborierteste Form der Publikumsbeschimpfung ist vielleicht jene, auf die das Publikum keine Entgegnung finden kann, weil der Akt der Beschimpfung nicht als solcher auszumachen ist. Barbara Zwiefelhofer, Programmplanerin des Literaturhauses, hat sich darauf eingestellt, wie gewöhnlich phrasenhaft auf den Büchertisch hinzuweisen, und ergreift zerknirscht das Mikrofon. «Ja», setzt sie an und macht eine kurze Pause. «Es ist schwierig, daran anzuknüpfen.» Edelbauer lächelt. Sieg durch k. o.