Ich schaue mir an, wo die Festung bröckelt
Der illegale Arbeitsmarkt wird so tot geschwiegen, als gäbe es diese Millionen in Europa gar nicht… Für ihr Reportagenbuch Gestürmte Festung Europa verfolgte die Journalistin Corinna Milborn die gefährlichen Wege der illegalisierten Migration. Vom Augustin wurde sie zu ihren Arbeitsmethoden befragt. Wie muss man sich die Recherchen für dein Buch vorstellen?
Wenn es um illegale Migration geht, kann man nicht viel vorrecherchieren, denn die Leute sind in Bewegung, haben keine Adressen, keine Telefonnummern und sind nicht organisiert, d.h. man kann nicht über Organisationen Kontakt aufnehmen. Das bedeutet immer wieder von Null anzufangen, neue Leute kennen zu lernen. Bei Leuten, die illegal unterwegs sind, ist der Vertrauensaufbau sehr wichtig. Es war notwendig, dass sie merkten, dass der Fotograf Reiner Riedler und ich großen Respekt vor den Menschen haben, die so eine Reise auf sich nehmen, oft unter Lebensgefahr. Die Einreise nach Europa ist durch die Illegalisierung so gefährlich geworden, da sterben jährlich zehntausende, oft sind Mafias im Spiel. Ich war aber auch sehr viel alleine unterwegs. Wenn man es schafft, sich als Frau einen gewissen Respekt aufzubauen, ist das eine gute Arbeits-Methode, weil man als Frau für die Männergruppen, mit denen man hauptsächlich zu tun hat, wenig bedrohlich ist.
Sind die Flüchtlinge daran interessiert, einer Journalistin ihre Geschichte zu erzählen?
Ich habe immer von Anfang an klar gestellt: Ich kann niemanden helfen, sondern mich interessieren die Geschichten. Im Prinzip hat jeder, der in so einer extremen Situation steckt, ein großes Bedürfnis danach, seine Geschichte zu erzählen, denn viele haben dazu nie Gelegenheit oder müssen gar ihre Geschichte verleugnen. Es hat innerhalb Europas oft gar keinen Sinn, nach Fluchtgeschichten zu fragen, denn entweder sind die Leute illegal da und dürfen nichts sagen, oder sie stecken im Asylverfahren und müssen Teile ihrer Fluchtgeschichte verschweigen. Denn mit echten Fluchtgeschichten wird man abgeschoben – vor allem in Österreich als Binnenland, das in die Länder, durch die man gekommen ist, zurückschiebt.
Wie ging es dir psychisch, wenn du z.B. einen Flüchtling siehst, der sich unter einem Lastwagen einklemmt, um über die Grenze zu kommen, und du nicht weißt, ob er überleben wird?
Gerade die Situation in diesen illegalen Lagern an der marokkanischen und spanischen Grenze ist belastend weil man so wahnsinnig ohnmächtig ist in diesem System. Man lernt Leute kennen, hört die schlimmsten Geschichten, und als erstes hat man den Impuls zu helfen, weiß aber zugleich, dass es nicht geht und außerdem unprofessionell wäre, denn um ein Buch zu schreiben, muss man eine gewisse Distanz aufrecht erhalten, weil man sonst den Blick verliert. Oft wollte ich nach zehn Tagen in der Früh nicht mehr aufstehen, um noch mehr traurige Geschichten zu hören, zu deren Lösung ich nichts beitragen kann. Die Situationen sind auch sehr stressig, weil die immer mit Polizei zu tun haben, es gibt eine andauernde Verfolgung und wenig oder keine Ressourcen. Es wird viel gestritten, man trifft viele Traumatisierte, die auch psychisch sehr labil sind. Die Position des Schreibens ist im Gegensatz zu einer helfenden Tätigkeit – absolut auf Augenhöhe, das sind Begegnungen von Mensch zu Mensch auf der gleichen Ebene, aber natürlich spielt immer mit, dass ich einen roten EU-Pass besitze und einfach über die Grenze fahren kann. Die anderen haben keinen Pass und stecken daher in Megaschwierigkeiten. Um das ertragen zu können musste ich mir immer wieder vor Augen führen, dass ich diese Situation nicht verschuldet habe und nur wenig tun kann, sie zu ändern.
Was hat dein spezielles Interesse an dem Thema geweckt?
Einwanderung ist eines der wichtigsten Themen derzeit. Zugleich laufen die Gesetze und die öffentliche und politische Debatte völlig an den Fakten vorbei. Z.B. wird behauptet, dass man Einwanderung stoppen könne, oder der illegale Arbeitsmarkt wird so tot geschwiegen, als gäbe es diese Millionen in Europa gar nicht. Die Bomben in London, der Sturm afrikanischer Flüchtlinge auf den Grenzzaun von Ceuta, die Aufstände in den französischen Vororten – das alles wird immer völlig getrennt voneinander behandelt. Dabei sind das ja nur Aufbrüche an den Rändern einer gemeinsamen Politik gegen Einwanderung und Widerstand gegen die äußeren und inneren Grenzen. Der verfehlte Umgang mit Einwanderung schafft verschiedene Brennpunkte. Ich schaue mir an, wo die Festung bröckelt, wo sie bricht, wo es Explosionen gibt. Es gibt viele Widersprüche und Tabus. In Bezug auf Frauen z.B. gibt es einen ganz starken Ansatz von der Rechten, darauf hin zu weisen, wie furchtbar migrantische Gesellschaften mit ihren Frauen umgehen und von der Linken her zu sagen, dass ist nicht so. Es gibt eine gewisse Scheu davor, Wahrheiten auszusprechen, wie z.B. dass sehr viele nur über die Grenze kommen, um hier illegal zu arbeiten. Das will man nicht aussprechen, weil das denen in die Hände spielen könnte, die strenger gegen Einwanderung vorgehen wollen.
Das sind aber doch die, die davon profitieren – die wissen das doch eh?
Es bleibt ein Tabu. Im Prinzip weiß es jeder. Es ist ja nicht so, dass die Leute nicht wissen, dass in fast jedem Lokal jemand illegal arbeitet, dass man in der Herbststraße einfach Menschen mitnehmen kann. Genauso ist es beim Frauenthema: Man weiß von den Problemen von Zwangsprostitution bis zu erzwungenen Heiraten. Aber man will sich nicht daran die Finger verbrennen.
Das Interview führte Kerstin Kellermann. Corinna Milborn ist Journalistin eines in Wien erscheinenden Wochenmagazins. Ihr Buch erschien bei Styria.