«Überall viele Gschroppn»vorstadt

Foto: © Mario Lang

Lokalmatador Nr. 537: Christian Becker

Christian Becker stemmt Gewichte – und sammelt Geschichte rund um Leopoldau.

Dann staubt wieder Magnesium. Und der Kraftsportler geht vorsichtig in die Knie. Handelt, hantelt erfahrungsgemäß. Seit 45 Jahren schon stemmt und reißt Christian Becker mit seinen Armen Eisenstangen, an denen rechts und links ordentlich viel Gewicht dranhängt, in die Höhe.

Das Gedächtnis

Der Lokalmatador stemmt für den Athletikklub Leopoldau. Er ist diesem lokalen Klub vom ersten Tag an, seit 1978, immer treu geblieben. Heute möchte er dem AK als dessen stellvertretender Obmann und als dessen lebendes Gedächtnis etwas zurückgeben: «Das, was ich als junger Mensch von den Älteren geschenkt bekommen habe.» Heimstätte der Leopoldauer:innen ist übrigens die städtische Sporthalle in der Großfeldsiedlung.
«Unser Klub ist jetzt bald hundert Jahre alt», weiß einer, der in Floridsdorf aufgewachsen ist und hier viel erlebt hat. Gegründet wurde der Klub im Jahr 1924, damals als 1. Leopoldauer Kraftsportklub «Freiheit». Was für eine Ansage für einen sozialistischen Sportverein! Bis heute gehalten hat sich in der Großfeldsiedlung auch das alte «Kraft frei!», der traditionelle Stemmergruß, der übrigens nicht von den Nazis erfunden wurde.
Jetzt muss sich der frischgebackene 65-Jährige konzentrieren. Beide Hände umgreifen die Eisenstange. Die Muskeln der Arme, der Beine, auch des Gesichts spannen an. Der Atem wird länger, tiefer. Gewichtheben ist Präzisionsarbeit. Zentimeter entscheiden nicht nur über den Erfolg, sondern auch über die Schonung der Gelenke. Die Bewegungen hat er über all die Jahre einstudiert.
Als Zwanzigjähriger ist Christian Becker vom Fußball zum Stemmen gewechselt. Seine damaligen Beweggründe erklärt er heute so: «Wenn wir mit dem Fußballverein verloren haben, hat jeder jeden geschimpft. Hier ist das anders. Wenn du gut trainierst, kannst du dich über eigene Erfolge freuen.»
Gerne erinnert er sich an die öffentlichen Trainings an Freitagabenden im großen Speisesaal vom Gasthaus Baumann auf dem Leopoldauer Platz: «Wir sind damals vor Publikum angetreten, das vom Obmann am Ende um eine kleine Spende gebeten wurde. Die Leute waren immer gut zu unserem Verein. Das Problem für uns Aktive war halt nur, dass viel geraucht wurde.»

Der Kraftausdruck

Zum Gaudium in den Wirtshäusern zählte auch der eine oder andere Kraftausdruck (irgendwo zwischen ehrlicher Anfeuerung oder gemeiner Schmähung) im mehr oder weniger breiten Wiener Dialekt. Der «Blade», der «Launge», der «Stoake» – überall gab es Helden und Antihelden. Das Gasthaus Baumann gibt es schon lange nicht mehr, die zeitweise sechzig Gewichtheber-Vereine, die sich über alle Wiener Bezirke verteilt hatten, auch nicht mehr.
Mit acht Jahren kam Christian Becker als Zweitältester von fünf Geschwistern über die Donau: «Für uns Kinder war das hier die große Freiheit.» Anders als im 5. Bezirk, «wo man zwischen den hohen Häusern nur von 11 bis 13 Uhr die Sonne sah», dienten ihnen die G’stättn und Äcker entlang der Leopoldauer Straße als Gratis-Abenteuerspielplätze: «Man konnte dort als Kind mit einem alten Auto fahren oder eine Waschmaschine zerlegen. Wenn wir ein Lagerfeuer machten und aufs offene Feuer Erdäpfel legten, kam auch nicht sofort die Feuerwehr.» Vor allem: «Es gab überall viele Gschroppn.»
Immer wieder lässt der echte Wiener alte Dialektwörter in seine Erzählung einfließen. Seine Mutter war mehr, sein Vater weniger katholisch, in jedem Fall kritisch gegen jeglichen Machtmissbrauch. Vielleicht hätte sich Christian Becker die Abend-HTL ersparen können, wären die Eltern Honoratioren im Bezirk gewesen. So hat er mit viel Anstrengung und großem technischen Interesse eine schöne Karriere in einer großen Wiener Druckerei absolviert. Nach fünfzig Berufsjahren, die aufgrund der vielen Überstunden eigentlich mehr als sechzig waren, geht er nun in den wohlverdienten Ruhestand.

Das Hochgefühl

Und es ist jedes Mal aufs Neue ein Hochgefühl, wenn er das aufgelegte Gewicht hochstemmen kann. Doch um den eigenen sportlichen Erfolg geht es Christian Becker heute nur mehr bedingt. In seiner Pension will er sich verstärkt um «die Jungen» kümmern und weiter nach Belegen seines Vereins suchen, um zum 100-Jahr-Jubiläum eine Festschrift drucken zu können. Im Dezember 2024 ist auch ein Wettkampf hier in der Halle geplant.
Bis dahin stemmt man sich weiterhin gegen den Zeitgeist. Von Montag bis Samstag lädt der AK ein, in den beiden Kraftkammern zu trainieren. Wer sich einmal ausprobieren möchte, ist willkommen: ak.leopoldau@chello.at