Überholmanövertun & lassen

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Die letzte Zugabe ist gespielt. Die Lichter gehen an. Die Band hinter der Bühne. Wir vor der Garderobe. Es herrscht Kampfstimmung. Entweder eine halbe Stunde in den Massen quetschen oder lieber fünf Minuten Kampf um die Jacke und dann raus auf ein kühles Bier. Die Fünf-Minuten-Variante gibts aber nicht umsonst, sie verlangt einiges ab. Drücken, Stoßen, Vorbeizwängen, listige Überholmanöver aushecken, Ellbogen dosiert einsetzen, dabei eher cool dreinschauen als verbissen Augen zusammenkneifen. Wenn man ganz vorne angelangt ist, den Garderobenzettel nicht einfach anbieten, sondern offensiv den Damen und Herren hinter dem Tisch unter die Nase reiben sonst verspielt man alle Zeit, die man im Kampfdrängeln gewonnen hat.Der Stärkere gewinnt. Das ist die marktradikale, neoliberale Variante. Warten ist nichts für Stärkere. Einkommen, Beruf und Bildung schlagen sich auf die Zeit. Menschen mit geringerem sozialem Status warten beim Arzt in Ambulanz oder Ordination durchschnittlich um 15 Minuten länger als PatientInnen aus höherer sozialer Schicht. Und im Spital haben wir erst jüngst gehört, dass der Sonderklasse-Patient die Oma mit Sozialhilfe vom Operationstisch nach hinten verdrängt. Längeres Warten auf Hilfe, dafür geht das Warten auf den Tod umso schneller. Ärmere sterben um sieben Jahre früher als Reichere. Zeit ist Geld.

Dabei spielen sich in einigen Institutionen des Landes unbemerkt kleine kulturelle Revolutionen ab. Bei der Post gibt es seit einiger Zeit eine Reihe, in der wer ganz vorne zu stehen kommt sich den nächsten freien Schalter sucht. Auch schon am Bahnhof gesehen. Das verteilt die schnelleren und langsameren Schalterbeamten gleich auf alle Wartenden. Mehr Gerechtigkeit beim Briefverkehr und in der Bahnhofshalle! Und in den öffentlichen Verkehrsmitteln tönt es neuerdings aus den Durchsagelautsprechern: Überlassen Sie ihren Sitzplatz denjenigen, die einen solchen dringender brauchen. Das Warten der Schwächeren auf eine entlastende Sitzgelegenheit soll gleichsam durch die individuelle Verantwortung aller Fahrgäste verkürzt werden. Verantwortung in Freiheit. Ein anspruchsvolles Programm. Das ist schon was. Funktioniert aber nur, wenn alle guten Willens sind. Darauf kann man bauen, aber nicht setzen. Im Garderobenmatch geht das gar nicht mehr. Da ist nur strategisch ausgefuchstes Kampdrängeln erfolgreich. Die Lichter gehen an. Alle verwandeln sich in Ellbogenkämpfer. In fünf Minuten von der Bühne zur Jacke. Wenn man es schafft.

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