Mansoor Adayfi, 1979 in Jemen geboren, ist Autor und ehemaliger Guantánamo-Inhaftierter. Zu Sommerbeginn war er zum ersten Mal in Wien um sein neuerschienenes Audiobuch zu präsentieren: Letters from Guantánamo.
Im Gespräch berichtet er vom Leben in voller Unmenschlichkeit – und wie er es überlebte.
Als 2014 der Hurrikan direkt auf Guantánamo zusteuert, ist die zunehmende Angst in den Gesichtern der Wärter:innen offensichtlich. «Sie bekamen dadurch etwas Menschliches, weil da etwas war, das größer war als sie», erinnert sich Mansoor Adayfi, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit 12 Jahren ohne Anklage in Guantánamo inhaftiert ist.
In dieser «absurden Welt», wie er sagt, voller Gewalt, Isolation und Dunkelheit ist es ihm nur ein einziges Mal gelungen, durch einen Riss in der Plane des Sanitätstrakts einen Blick auf das Meer zu erheischen. In Anbetracht des nahenden Sturmes entfernen Arbeiter jedoch eilig die Zeltbahnen. Beim endlich freien Blick, der sich über das tosende Meer bis zum Horizont erstreckt, können die Afghanen, die noch nie das Meer gesehen haben, die Schönheit des Anblicks kaum fassen. Dann setzen sich sämtliche Insassen des Camps Delta auf den Boden und blicken schweigend in die Ferne. Ganze drei Tage lang soll dieser Ausnahmezustand andauern. Am letzten Tag, als der Sturm eintrifft, werden sämtliche Wärter:innen evakuiert und die Gefangenen alleine in den Käfigen ihrem Schicksal überlassen. Laut Mansoor ein Hauch von Freiheit im Lichte der tagtäglichen Unterdrückung. «Das Meer war wütend und stark, aber es war für den Frieden, also kam uns das Meer besuchen», lächelt Mansoor.
Die Entführung
Als der 18-jährige Mansoor Adayfi vom Dekan der jemenitischen Universität in Sanaa, das Angebot erhält, ein Forschungsteam nach Pakistan und Afghanistan zu begleiten, so sei dies erzählt er, der beste Tag seines Lebens gewesen. Als Gegenleistung winken Studienplatz nebst Stipendium an einer auswärtigen Universität. Zugegeben, für den aus prekären Verhältnissen stammenden Mansoor, ein vielversprechender Vorschlag. Denn vorerst ist das IT-Studium der erste Schritt eines weit größeren ambitionierten Planes. In seiner Heimatregion in den Bergen Raymahs fehlt es an jeglicher medizinischer Versorgung und Infrastruktur, so verstirbt auch seine Lieblingstante bei der Geburt ihres Kindes. Nach dem Studium sollen es ihm gut bezahlte Jobs aus der Branche ermöglichen, dort eine Klinik zu eröffnen. Es ist genau jene Sorge um die Familie, das Kollektiv, die Gemeinschaft, die sein Leben lenken wird. Dass der 18-jährige wenig später in Handschellen mit verbundenen Augen, geknebelt und unter menschenrechtswidrigen Umständen nach Guantánamo verschleppt wird, ist Bush Juniors Politik nach dem Anschlag 9/11 geschuldet. Kurz nach dem Terroranschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Center befindet sich Mansoor jedenfalls noch auf einer Forschungsreise in Afghanistan, um dann dort von einem Warlord entführt und als vermeintlicher Al-Qaida Kommandant an die CIA verkauft zu werden. Wie er später erfährt, eine gängige Praxis, denn nur fünf Prozent der Insassen von Guantánamo sind tatsächliche Mitglieder der Al-Qaida oder Taliban. Vorerst wird Mansoor aber in eine «Black Site» gebracht – zu Deutsch schwarze Anlage, geheime Foltergefängnisse der USA, die außerhalb deren Staatsgebiet liegen. Eine der schlimmsten Erfahrungen die er macht: «Ich war die meiste Zeit nackt. Laute Musik, kein Licht, Schläge, Schlafentzug, Vergewaltigungen und so weiter. Ich war drei Monate dort und die Befrager kamen in Teams, zu jeder Uhrzeit und willkürlich.»
Nummer 441
Das erste, was Mansoor in Guantánamo wahrnimmt, ist der Geruch des Meeres. Es wird lange Zeit vergehen, bis er es sehen darf. Die nächsten zwei der 15 Jahre verbringt Mansoor als Nummer 441 nackt in absoluter Dunkelheit in einem Isolations-Käfig, im Hungerstreik. Die Folter und Misshandlungen fordern ihren Tribut. Dass er nicht den Verstand verloren hat, ist den vielen Mithäftlingen, seinem Glauben und der Entwicklung eines überlebenswichtigen «Galgenhumors» geschuldet. Aber auch einigen Wärter:innen und Sicherheitspersonen, die immer wieder versuchen, im Geheimen zu helfen. Wer dabei erwischt wird, findet sich schnell auf der anderen Seite des Käfigs wieder mit kahl rasiertem Schädel, in oranger Uniform und einem Stoff über dem Kopf.
«Wenn ein Neuer gekommen ist, haben wir gleich gefragt: Arabisch, Farsi, Englisch, Urdu, Französisch, Russisch? Es wurden mehr als 20 Sprachen gesprochen. Es gab 800 Häftlinge mit über 50 Nationalitäten, da waren Ärzte, Krankenpfleger, Psychologen, Anwälte.» Blickt man auf Guantánamo als Institution, wird schnell klar, dass die bisherigen Ergebnisse die jährlichen Kosten von 514 Millionen Dollar kaum rechtfertigen können, eine einzige Person wurde bis jetzt verurteilt. Guantánamo steht mehr für seine Symbolkraft, als Synonym für einen rechtlosen Raum, kontrolliertes Chaos, Willkür, als Symbol für die Verschleppung, Folterung und Tötung von unschuldigen Menschen, verschwunden in den Black Sites. Aber auch als Versuchslabor und Experimentierfeld für die Entwicklung von Foltermethoden, denn darum sei es dem Militär und Geheimdienst eigentlich gegangen, so Mansoor. Mithilfe von Regierungsbeamt:innen, Psycholog:innen und Ärzt:innen wurden Foltermethoden an Insassen erprobt und entwickelt. Die Versuchsanordnung ist ideal, die Testgruppe beinhaltet nicht nur alle Altersstufen – der älteste Insasse ist über 100, viele sind noch Kinder, das jüngste Mitglied ein vier Monate altes Baby, sondern es sind auch verschiedene Bildungsgrade und Klassen vorhanden. Gemeinsam haben sie eines: Alle sind gläubige Muslime. Getestet werden Durchhaltevermögen, die Effizienz verschiedener Foltermethoden, sexuelle, physische und psychische Gewalt, die als weiße Folter bekannte Methode des Waterboardings und Formen der Reverse Psychology. Neun Personen sind an den Folgen der Folter verstorben, berichtet Mansoor.
Schreiben gegen das Vergessen
«Je länger wir in Guantánamo blieben, desto mehr vergaßen wir unser vorheriges Leben, desto mehr begannen wir, ein neues Leben zu konstruieren, Erinnerungen, Freundschaft, Beziehungen, Erfahrungen. Im Grunde beginnst du, ein neues Ich zu konstruieren.» Und von jenem Leben berichtet Mansoors Buch Don’t forget us here. Der Titel referiert auf die eindringliche Bitte seiner Mitgefangenen, als Mansoor im Jahr 2016 tatsächlich freigelassen wird. Mansoor hält Wort und hat bereits während der Gefangenschaft einen Weg gefunden, das Manuskript trotz mehrmaliger Konfiszierungen mittels Anwaltskorrespondenz der Außenwelt zu übermitteln. Entstanden ist ein Werk, das nicht nur profunde Einblicke in die Entwicklungen an einem der geheimsten Orte ermöglicht, sondern auch feinfühlig die vielfältigen Menschen und ihre Geschichten zeichnet. Mansoor beleuchtet, wie die Insassen inmitten eines Systems, das darauf abzielt, sie zu brechen, zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen. Auf willkürliche Verlegungen, neue Foltermethoden oder individuelle Schicksale folgen oft Aktionen wie akkordierte Suizidversuche, Hungerstreiks oder die gemeinsame Demolierung der Zelleneinrichtung. Mansoor sieht in diesen widerständigen Handlungen und der Empathie, die den Misshandelten entgegengebracht wird, auch das Bestreben, in dieser «verkehrten Welt, in der nichts Sinn machte» solidarisch einen Funken Menschlichkeit zu bewahren. Der tägliche Kampf um die Humanität an einem der unmenschlichsten Orte fußt auch auf Hoffnung, Glaube und der Kraft, die Humor und Momenten unerwarteter Schönheit innewohnt.
Für Mansoor geht Macht mit Verantwortung einher, oder es herrscht Chaos. Wenn es keine Verantwortlichen gibt, welche Rechenschaft ablegen, gibt es keine Gerechtigkeit. Er selbst habe mit Guantánamo Frieden geschlossen, vergeben kann er jedoch nicht. «Vergeben kann man nur wenn man Gerechtigkeit erhält. Close Guantánamo! bedeutet die rechtliche und finanzielle Wiedergutmachung der Insassen und deren Familien, man muss das stoppen. Auch damit andere Staaten nicht ihr eigenes Guantánamo eröffnen.» Für diese Wiedergutmachung und für die Freilassung der letzten 30 Gefangenen kämpft Mansoor weiterhin.
Buch
Mansoor Adayfi: Don’t Forget Us Here. Lost and Found at Guantánamo
Hachette Books 2021
384 Seiten, 33 Euro
Audiobuch
Mansoor Adayfi: Letters from Guantánamo
Audible 2024
25,95 Euro