Unberechenbare VermutungenArtistin

Langsam geht der Bloomsday auch ins Wiener Brauchtum ein

«Was waren, auf ihre einfachste wechselseitige Form reduziert, Blooms Gedanken über Stephens Gedanken über Bloom und Blooms Gedanken über Stephens Gedanken über Blooms Gedanken über Stephen?» «Er dachte, er dächte, er wäre Jude, wohingegen er wusste, dass er wusste, dass er wusste, dass er’s nicht war.» Ein absurder Dialog, vom Zufall aus James Joyce’ Roman «Ulysses» herausgefischt. Er gilt als schwer lesbar. Und dennoch wächst in Wien die Zahl der Ulysses-Fanatiker_innen, die jährlich am 16. Juni der Romanfigur Bloom huldigen – oft bis zum Umfallen. Eine Übersicht von Robert Sommer.

Foto: Mario Lang

Zugegeben, in Dublin fallen mehr um, am 16. Juni. Dort spielt der Alkohol eine zentrale Rolle: schon in den frühen Morgenstunden dieses Tages versammeln sich die Fans von Joyce in den diversen Pubs – vorzüglich in jenen, die einen Bezug zum Roman haben. Natürlich müssen die Dubliner_innen und die Blooms-Tourist_innen nicht alle 900 Seiten gelesen haben, um diese Örtlichkeiten zu finden. Die Tourismusmaschinerie hat längst ein Leitsystem installiert. Auch wer keine einzige Zeile gelesen hat, weiß, dass am Donnerstag, 16. Juni 1904, acht Uhr früh die Romanhandlung dieses berühmtesten Textes der Literatur der Moderne beginnt. Marcel Proust hat mit seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» ebenso wie Robert Musil mit seinem «Mann ohne Eigenschaften» vergleichbare Ouevres der Anti-Trivialität geschaffen, aber diese beiden Werke haben einen Nachteil: Die Handlung ist nicht, wie bei «Ulysses», auf einen einzigen Tag reduziert. Das erschwert die Fixierung von eventuellen Proust- oder Musilfeiertagen.

In Dublin jedenfalls ziehen an diesem 16. Juni Zehntausende durch die Straßen, Hunderte von ihnen in der Kleidung der Jahrhundertwende, die Frauen in langen Röcken und Rüschenblusen, die Männer mit Strohhüten und gestreiften Westen. Der Bloomsday ist in der irischen Hauptstadt längst eine Touristenattraktion eigenen Ranges geworden. Wann diese zivilgesellschaftliche Hommage an Joyce und «Ulysses» begann, weiß niemand genau. Kleinere Gruppen von Joyce-Verehrer_innen fingen schon bald nach der Veröffentlichung des Buches 1922 in Paris mit Erinnerungsaktivitäten an. Belegt sind größere Veranstaltungen in Dublin im Jahr 1954, zum 50. Jubiläum der Wanderung des Leopold Bloom durch seine Stadt. Dass Joyce diesen Tag für das Szenario seines berühmtesten Buches auswählte, hat einen Grund, der in seiner Biographie liegt. Am 16. Juni 1904 begann sein romantisches Techtelmechtel mit Nora Barnacle, die später seine Ehefrau wurde. In den 50er Jahren müssen Solidarisierungen mit dem irischen Avantgarde-Literaten noch ein ziemlich subversives Projekt gewesen sein, war doch der Roman «Ulysses» in der irischen Heimat des Verfassers wegen seiner «Obszönität» lange nicht erhältlich. In den USA war die Einfuhr des Romans bis 1950 verboten.

Natürlich gibt es in Dublin auch jede Menge kleiner, feiner Bloomsday-Veranstaltungen abseits der «Bloomsday-Industrie». Geprägt wird der nicht offizielle Feiertag aber durch die klassische Variante des kollektiven Stadtrundgangs, der seinen Ausgangspunkt in der Eccles Street Nr. 7 hat, Blooms Wohnhaus im Norden Dublins. Das Haus wurde in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts abgerissen: offensichtlich versagte in dieser Modernisierungsperiode nicht nur der österreichische Denkmalschutz. Immerhin findet man die Original-Haustür im James-Joyce-Centre, einige Häuser weiter. Eine (leicht angebrannte) in Butter gebratene Schweineniere zum Frühstück zu essen, gilt ebenso als obligatorisch.

So viele Rätsel habe er in dem Buch versteckt, bemerkte Joyce einmal, dass die Gelehrten jahrhundertelang beschäftigt sein würden, darüber zu streiten, was er gemeint habe. Und das sei der einzige Weg, seine Unsterblichkeit zu sichern. Man kann sich zu dieser Anmerkung das verschmitzte Antlitz eines der Welt Vorauseilenden, eines sich seiner avantgardistischen Rolle voll Bewussten gut vorstellen. In Wien, wo die Angst vor einer Vereinnahmung des Ouevres von James Joyce durch das Tourismusmanagement unbegründet ist, kann der Bloomsday so gefeiert werden, dass das anarchistische, surrealistische Fluidum seines Werks zum Ausdruck kommt. In den späten 1960er Jahren sorgte nicht eine anerkannte hochkulturelle Institution, sondern der 2013 gestorbene subkulturelle Subkulturforscher Rolf Schwendter dafür, dass der Bloomsday zum ersten Mal auch in Österreich zelebriert wurde. Mit hektografierten «Mitteilungen an den Freundeskreis» wurden Künstler_innen und Intellektuelle in Wien aufgerufen, etwa an einem x-beliebigen, zufällig ausgewählten Begräbnis am Zentralfriedhof teilzunehmen. Die Hinterbliebenen waren über die unerwartet große Zahl von Trauergästen erstaunt.

An diese gebrochene Tradition schließen – wissentlich oder nicht wissentlich – in den letzten Jahren immer mehr literarisch interessierte Gruppen und Individuen an; unkoordiniert, ja nicht einmal miteinander kommunizierend, trägt jede von ihnen zu einem Wiener Kalender, einer Wiener City Map des Bloomsdays bei – eine logistische Herausforderung für alle, die möglichst wenige Programme versäumen wollen.

Die babylonische «Ulysses»-Lesung

Für die erste Wiener Bloomsday-Veranstaltung ist logistsches Know How freilich entbehrlich. Im Radiokulturhaus in der Argentinierstraße wird der Bloomsday schon auf Freitag, den 12. Juni 201 vorverlegt. Ein fürchterlicher Verstoß gegen die internationale Spielregel, nichtsdestotrotz ein Segen für die Wiener Joyce-Community, weil er die Dichte der dienstägigen «korrekten» Bloomsday-Termine reduziert. Ab 19.30 Uhr geben Meinhard Rauchensteiner und seine Mitstreiter_innen eine polyglotte Crossover-Einführung in das Werk. Die Musik- und Text-Performance in mehr als zehn Sprachen war am Bloomsday 2014 im Kulturcafé des Aktionsradius Wien uraufgeführt worden. Im Anschluss an die Performance im Studio 3 geht es ab 21 Uhr im RadioCafe irisch weiter. Irische Live-Musik und Kulinarik stimmen am Vorabend seiner Ausstrahlung auf ein dem Anlass entsprechendes Radioereignis ein: Ö1 sendet am 13. Juni den gesamten «Ulysses». Auch das Ö1-Radiokolleg vom Montag, 8. Juni bis Donnerstag, 11. Juni (jeweils ab 9.30 Uhr früh) widmet sich diesem Thema: «Ein Tag auf tausend Seiten».

Bloomsday in Ottakring

Zum Tag der Qual der Wahl wird dann der 16. Juni. Das Literaturhaus Wien und Kul turcafés in der Brigittenau und in Ottakring sind Schauplätze der Joyce-Fiesta. Zum siebenten Mal findet der «Bloomsday in Ottakring», statt. Im Club International am Yppenplatz (Beginn 19 Uhr) setzen sich Gerald Grassl, Heidrun Karlic und Bernadette Stummer mit verschiedenen Aspekten des Utopischen und Visionären im berühmten Werk der Weltliteratur auseinander. Die zahlreichen zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelten Szenen des «Ulysses»-Projekts, die sich überlagernden Gedankenfetzen, die sich gleichzeitig an verschiedenen Orten abspielenden zu einem einzigen Eindruck verschwimmenden Ereignisse, bildet für das Trio eine Grundlage für eine Fülle an kreativen Umsetzungsmöglichkeiten in verschiedenen Kunstrichtungen. Grassls Fragestellung lautet, inwieweit man bei «Ulysses» von einer «Neuerfindung des Romans» und von «Weltliteratur» sprechen kann. Der Herausgeber der Literaturzeitschrift «Tarantel» präsentiert sein Hörspiel-Dramolett «Noras Klage» als CD. Karlic zeigt Fotografien von ihrer Kulturreise zum Bloomsday in Dublin und Umgebung im Jubiläumsjahr 2014. Stummer führt ihr 2012 begonnenes Langzeitprojekt von Videocollagen zum Roman «Ulysses» weiter.

Der Hauptfeiertag der Augartenstadt

Die Republik Augartenstadt, auch wenn sie völkerrechtlich gesehen kein Staat, sondern ein Kunstprojekt des Aktionsradius Wien ist, verfügt über eine Regierung, eine Hymne – und einen Feiertag. Es ist ihr einziger und heißt – Bloomsday. Heuer wird er am 16. Juni im Kulturlokal Gaußplatz 11 und auf dessen Vorplatz gefeiert. Gestartet wird um 19 Uhr mit der Klang- und Tanzperformance «Lucias Blut Erguss» der Gruppe «Slow Forward», unter Verwendung eines beispiellosen Musikinstruments, der «schrillen Marille». Geboten wird ein Stück zur Erinnerung an James Joyce’ Tochter Lucia, die Tänzerin war. Richard Wall, Künstler und Schriftsteller aus Oberösterreich, befasst sich mit der Tradition der Mouth Music, einem Kind der irischen Wirtschaftskrisen. Es kam zu genialen stimmlichen Imitationen des Klangs von Fiedeln, Akkordeons, Dudelsäcken und Maultrommeln. Die Songs der Mouth Music kommen auch in James Joyce’ Werk vor. Während der Vorlesung Walls brät Meinhard Rauchensteiner auf seinem Elektrokocher für alle Besucher_innen Schweinsnieren mit Zwiebel und lässt sie (die Nieren) leicht anbrennen. «Der Nino aus Wien» und Natalie Ofenböck, beide Triest-Kenner und Joyce-Verehrer, begeben sich schließlich auf die mediterranen Spuren des irischen Dichters und untersuchen, wie sich die Bora auf sein Schreiben ausgewirkt hat. Ihr Programm besteht aus Liedern, Gedichten und – laut Flyer – «unberechenbaren Vermutungen».

Bloomsday im Literaturhaus

Ebenfalls am 16. Juni lädt das Literaturhaus Wien (1070, Seidengasse 13, Beginn 19 Uhr) zu einer Mischung aus Lesungen, Sounds, Visuals und einer Ausstellung zum Bloosmday ein. Gustav Ernst, Barbi Markovic, Gabriele Petricek, Jörg Piringer, Judith Nika Pfeifer, Galina & Nikolay Skryl (Berlin) und Christiane Zintzen verwenden James Joyces «Ulysses» als Basis für eine kongruente Auseinandersetzung – und zeigen, welche zahlreichen Anknüpfungspunkte für vielfältige künstlerische Auseinandersetzungen das Werk bietet. Es handelt sich um eine Veranstaltung der Grazer Autorinnen Autorenversammlung und der Literaturzeitschrift «kolik».

Ist die Parallelität der Wiener Bloomsday-Ereignisse als unkoordiniertes Chaos des Kampfes um das Publikum zu betrachten? Davor wird abgeraten. Wenn eine Weltstadt Weltliteratur feiert, ist jede Form von Zentralismus eine Beleidigung von James Joyce.