Undercover in AuschwitzArtistin

Ein Comic erinnert an Witold Pileckis einzigartige «Mission», den Widerstand gegen den Nationalsozialismus im KZ zu organisieren.

TEXT: MARTIN REITERER

Erst vor weniger als zehn Jahren wurde sein Bericht aus Auschwitz (1945) ins Deutsche übertragen. Dabei war er von so herausragender Bedeutung wie Jan Karskis berühmt gewordener Augenzeugenbericht (Mein Bericht an die Welt, 1944), den dieser verfasste, nachdem er sich Ende 1942 unter Lebens­gefahr in das Warschauer Ghetto und das Durchgangslager Izbica einschleusen ließ, um die Außenwelt auf die Gräuel­taten der Nazis aufmerksam zu machen. Witold Pilecki war ein Landsmann des Polen Karski. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht und sowjetischer Truppen war er Mitbegründer der Geheimen Polnischen Armee (später Heimatarmee). Im September 1940 ließ sich der Offizier unter dem Deck­namen Tomasz Serafiński bei einer Razzia der SS in Warschau festnehmen und nach Auschwitz abtransportieren. Seine «Mission» war es, in Auschwitz eine Widerstandsorganisation aufzubauen, um im geeigneten Augenblick mit Hilfe der Geheimarmee in Warschau einen Aufstand im Lager zu entfachen. «Das Spiel, das ich in Auschwitz spielte, war gefährlich. Tatsächlich war ich hier weit über das hinausgegangen, was man üblicherweise unter gefährlich verstand.»
Der Comic Rapport W – Freiwillig als Häftling in Auschwitz des französischen Zeichners Gaétan Nocq ist eine künstlerische Umsetzung des Berichts. Dem gut hundert Seiten starken Text gehen mehrere kurze Berichte voraus, die Pilec­ki geheim aus dem Lager geschickt hatte. Mit dem Titel Rapport W nimmt der Comic auf die vorletzte, 1943 verfasste Version Bezug. Damit hebt der Zeichner den Spionagecharakter der Geschichte hervor. Der in Sachen Geheime Netzwerke erfahrene Pilecki hatte in Auschwitz ein effektives Netz aufgebaut, das aus Zellen von etwa fünf Personen bestand, deren Namen er mit Zahlen verschlüsselte. Zur Absicherung wussten die einzelnen Zellen nichts von den jeweils anderen. 1942 zählte das Netz an die 800 Mitglieder. Auch der österreichische Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein berichtet in Die Stärkeren (1949) vom Aufbau einer Widerstandsgruppe. Tatsächlich kommt es nach Pileckis Flucht zu einem Zusammenschluss mit dem größeren polnischen Widerstandsnetz.

Den Sadismus zeichnen.

Doch zuvor muss Pilecki noch mit der rohen Gewalt des Lagers zurechtkommen. In einer präzisen Ästhetik bringt der Zeichner Nocq die diffizile Konstellation aufs Papier, die sich zwischen der gnadenlosen Härte des Lagers und der unnachgiebigen Zuversicht herstellt, die Serafiński aka Pilecki in seine Mission setzt. «Ich spinne ein Netz …» So mögen die wenngleich matten Farben aufs Erste irritieren, neben Rot-Braun und Grau-Abstufungen ist da auch Blau. Blau sind die Streifen der Häftlingskleidung, kalt-blau wirken die Innenräume der KZ-Gebäude, aber blau ist auch der Himmel. Und darum ist Blau die Farbe der Hoffnung – oder «dieses widersinnige[n], verrückte[n] Überbleibsel[s] von uneingestandener Hoffnung» (Primo Levi). Als die Historikerin Isabelle Davion mit dem Vorschlag einer Umsetzung dieses erstaunlichen Dokuments an den Zeichner herantrat, hatte dieser «schwere Zweifel», was die Darstellung betrifft. Als er selbst die historische Stätte abschreitet, bemerkt er die starke Präsenz der Natur, die das Lager umgibt und auf paradoxe Weise konterkariert: «Bäume, Felder und dieser Fluss, die Sola. Der Fluss der Flucht.» Die großen Bäume, damals klein, sind heute «präsente Zeugen». Der Widerspruch ist in den Bildern zu spüren. Eingehüllt in einen Schleier wirken sie fremd­artig. Weite, panoramaartige Einstellungen verstärken diesen Effekt und heben das Bizarre der Geschehnisse hervor. Ihr Pendant ist nicht die Nahaufnahme, sondern das Detail. In dichten doppel­seitigen Kompositionen bringt der Zeichner den Sadismus des NS­-Terrorregimes zum Ausdruck, den Pilecki beschreibt, etwa in den «Leibesübungen» auf dem Appellplatz, bei denen die ausgelaugten Häftlinge auf Zuruf der SS-Leute stundenlang «springen, hüpfen, tanzen» müssen. In den fragmentierten Bewegungen sind Elemente nationalsozialistischer Machtdemonstration eingefangen.
Rapport W ist zudem eine Anspielung auf George Perec’ W oder die Kindheitserinnerung (1975). Darin rekonstruiert der Sohn jüdischer Eltern, die zur Nazizeit ums Leben kamen, nicht nur die Lücken seiner Kindheitserinnerungen, sondern entwirft mit dem Unort «W», auf einer geheimen Insel von Pinochets Feuerland, auch einen faschistischen Staat, in dem der olympische Sport zu einem pervertierten Herrschafts­prinzip er­hoben wurde.
Die Choreografie des Todes lässt immer noch Steigerungen zu: Anfang 1941 wird ein Lagerorchester gegründet, viermal täglich müssen die Häftlinge zu den «fröhlichen Märschen» «im richtigen Takt» marschieren. Wenn Levi in seinen Aufzeichnungen über Auschwitz III, Ist das ein Mensch? (1947), diese Musik «infernalisch» nennt, dann meint er tatsächlich die «Hölle». Der Auschwitz-Überlebende bezieht sich auf Dante Alighieris Inferno. Dantes «Hölle» war für Levi eine Art überlebensnotwendige Spiegelung dessen, was er erlebte. Auch Pilecki verwendet in seinem Bericht ein Dutzend Mal das Bild der Hölle, und unbewusst erinnert er an Dantes Vers-Epos, wenn er einen brüllenden SS-Mann widergibt: «Dass mir ja keiner von euch glaubt, hier lebend rauszukommen …»

Ein Netz spinnen.

Statt alle Hoffnung fahren zu lassen, spinnt Pilecki sein Netz. Nocq zeichnet die Gesten des Widerstands, die sich in Blicken verbergen, in scheinbar beiläufigen Gesprächen oder in vorgetäuschtem Gebrüll. Zwar in Hinblick auf einen Aufstand geknüpft, greift das entstehende Netzwerk viel früher: als Hilfsnetzwerk, sogar Überlebensnetzwerk. Die Mitglieder unterstützen, informieren und warnen sich gegenseitig. Doch die Todesmaschine des Konzentrations­lagers nimmt immer monströsere Formen an. «Ich spinne ein Netz, das unaufhörlich verstärkt werden muss … denn der Tod eines Kameraden macht es fragil …» Pileckis Bericht ist ein rares Dokument der Anfangsphase von Auschwitz. Das KZ ist im Aufbau, die Häftlinge sind hauptsächlich Polen. Auschwitz II, Birkenau, entsteht. Pilecki ist Zeuge der ersten Gaskammern, der Ankunft der ersten russischen Gefangenen und ihrer Ermordung, der Ankunft der ersten Juden und ihrer Ermordung.
«Worauf warten wir?» Pilecki ist bereit für einen Aufstand. Doch ohne Unterstützung von außen droht der Plan, nur «ein schönes Feuerwerk» zu werden. Obwohl es nur allzu verständlich gewesen wäre, der Netzwerker wollte sich keine Resignation gestatten – «in der Hölle ist kein Platz für Schwermut». Nach 947 Tagen Auschwitz musste Pilecki die Flucht ergreifen. Trotz seiner persönlichen Berichterstattung entscheidet sich die Heimatarmee gegen einen Angriff. Pilecki hingegen geht angesichts der sowjetischen Machtübernahme nach dem Krieg in den Untergrund. Sein Widerstand gegen das Naziregime bleibt ungewürdigt, von kommunistischen Widerstandskämpfern missbilligt. 1948 wird er von den stalinistischen Machthabern hingerichtet. Erst in den 1990er Jahren wird der Widerstandkämpfer rehabilitiert. Nocqs sensibles Kunstwerk setzt Pileckis menschliches Vermächtnis ins richtige Licht.

Gaétan Nocq: Rapport W. Freiwillig als Häftling in Auschwitz.
Aus dem Französischen von Marcel LeComte.
Splitter Verlag 2021, 264 Seiten, 35 Euro

Witold Pilecki: Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki. Aus dem Englischen von Dagmar Mallet. Orell Füssli Verlag 2013

Georges Perec: W oder die Kindheitserinnerung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. diaphanes 2016

Primo Levi: Ist das ein Mensch? Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. dtv 2021

Comics zu den genannten Autoren (alle bahoe books Wien):
Thomas Fatzinek: Die Stärkeren. Ein Bericht von Hermann Langbein. 2017
Marco Rizzo, Lelio Bonaccorso: Jan Karski. Zeuge der Shoah. 2018
Matteo Mastragostino, Alessandro Ranghiasci: Primo Levi. 2019