«Underdog-Siedlung» in der Vorstadtvorstadt

Rosa Dworschak kümmerte sich um die Bewohner_innen des «Negerdörfls»

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in Ottakring eine Barackensiedlung, die als «Negerdörfl» bezeichnet wurde. Wer dort wie lebte, hat die «Fürsorgerin» und Psychoanalytikerin Rosa Dworschak schriftlich festgehalten. Es musste über sechzig Jahre dauern, bis Dworschaks Aufzeichnungen posthum veröffentlicht wurden. Der Sozialpsychologe und Mit-Herausgeber Karl Fallend im Augustin-Gespräch.

Handelt es sich bei dem Buch «Dorfgeschichten aus der Großstadt» um einen Roman?

Es ist in Romanform geschrieben. Eine Form, um die Erfahrungen autobiografisch aufzuarbeiten. Es geht um eine real existierende Barackensiedlung – genannt das Negerdörfl -, das 1911 in Ottakring gegründet und 1952 aufgelöst wurde. Es handelte sich um Holzbaracken mit bis zu 40 Metern Länge, und sie hat dort zehn Jahre lang, von 1928 bis 1938, gearbeitet. Mir gefällt beim Buch besonders gut, dass Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die dermaßen viel Erfahrung haben und ihre Tätigkeiten an den Brennpunkten der gesellschaftlichen Konflikte verrichten, ihre Erfahrungen schriftlich weitergeben. Mündlich wurden diese z. B. in der Lehre weitergegeben, aber schriftliche Weitergaben fanden ganz, ganz selten statt. Mit diesem, unter Anführungszeichen, Roman passiert das aber. Sie hat dort (im «Negerdörfl», Anm.) während der Arbeit immer Notizen gemacht, und der Enkel von August Aichhorn (Psychoanalytiker und Lehrer von Rosa Dworschak, Anm.), Thomas Aichhorn, in dessen Besitz die wertvollen Manuskripte sind, schreibt auch, dass sie ab 1960 den Plan hatte, die Manuskripte als Buch zu veröffentlichen, aber dafür keinen Verleger bzw. kein öffentliches Interesse fand.

Negerdörfl ist ein komischer Name, warum hieß die Siedlung so?

Ich kann es nur vermuten – es hat natürlich eine rassistische Konnotation. Es kann mit dem Wiener Dialektausdruck «Ich bin neger», was für «Ich habe keine Geld» steht, zusammenhängen. Einer anderen Theorie nach seien die arbeitslosen Bewohner dieser Siedlung sehr viel in der Sonne gelegen und daher braungebrannt gewesen. – Das scheint mir nicht schlüssig zu sein, aber diese Phantasie existiert.

Im Vorort der Armen ist auch noch eine Underdog-Siedlung gewesen. Sozusagen noch einmal drunter.

Ja, das kann man so sagen, es war die letzte Stufe vor der Obdachlosigkeit.

Hat sich Rosa Dworschak dort als Fürsorgerin, Sozialarbeiterin um die Familien gekümmert?

Genau, sie war vom Wiener Jugendamt beauftragt, dort als Ansprechperson zur Verfügung zu stehen. Sie beschreibt in ihren Briefen reale Erlebnisse und hat nur die Personennamen anonymisiert. Sie gibt einen Einblick im Sinne einer Sozialreportage, die einen lesbaren Film im Kopf ermöglicht, wie es in den 1920er und -30er Jahren im Prekariat zugegangen ist.

Bei ihr kommen immer die Beziehungen der Leute raus, ihre Familiengeschichten. Und sie selbst hat sich – so scheint es mir – in eine Doppelrolle gerückt: als Verwalterin und als junge Mitarbeiterin vom Jugendamt, die immer von außen eingreifen muss, wie z. B. Kinder wegnehmen. Und die beiden reden ständig miteinander.

Ja, die Junge fragt die Ältere ständig um Rat, weil diese viel Erfahrung hat. Das dürfte ein bewusster dramaturgischer Griff sein. Im Dialog der beiden wird eine hohe Sensibilität an den Tag gelegt, das Interesse an Beziehungsgeschichten, das Interesse an historisch entstandenem Elend. – Das ist per definitionem eine sehr psychoanalytische Betrachtungsweise.

Sie zeigt das doppelte Mandat einerseits als Vertreterin der Ordnung, des Gesetzes und das partnerschaftlich advokatorische auf der anderen Seite, was sich ja oft spießt.

Da gebe ich Dir völlig recht.

Das Interview führte Martin Schenk im Rahmen der Augustin-TV-Produktion «eingSCHENKt». In voller Länge abrufbar unter okto.tv/eingschenkt.

Info

Rosa Dworschak (1896-1990) wurde in St. Peter in der Steiermark geboren. 1912 schloss sie die Handelsschule ab und arbeitete dann in einer Notariatskanzlei und bei der Wiener Postsparkasse. Mit dem Wunsch, ein Kinderheim zu leiten, besuchte sie die «Vereinigten Fachkurse für Volkspflege», die erste von Ilse Arlt 1912 gegründete Fürsorgeschule Österreich-Ungarns. Von 1916 an war sie als Sozialarbeiterin, später als Fürsorgeleiterin und Erziehungsberaterin in verschiedenen Wiener Bezirksjugendämtern tätig. Beim Wiener Jugendamt lernte sie 1917 den Psychoanalytiker August Aichhorn kennen, und als dieser 1923 psychoanalytisch orientierte Erziehungsberatungsstellen in Wien einrichtete, wurde Rosa Dworschak seine engste Mitarbeiterin und Schülerin. Neben ihrer Fürsorgearbeit studierte sie Komposition an der Wiener Musikakademie. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sie sich für die Modernisierung der Fürsorge. 1949 begründete sie die erste öffentliche Wiener Child Guidance Clinic, das Institut für Erziehungshilfe in Wien-Heiligenstadt, wo sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1962 als Erziehungsberaterin und Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche arbeitete. (Siehe: www.psychoanalytikerinnen.de)

«Dorfgeschichten aus der Großstadt»

(= Zur Geschichte und Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Bd. 7)

Hg. von Karl Fallend und Klaus Posch

Löcker, Wien 2014

193 S., € 19,80

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