Sachbuch: Familiäre Befragungen zur NS-«Eutahnasie»
Von einer Bekannten habe ich erfahren, dass ihre Schwester jahrelang Therapie brauchte, um herauszufinden, dass ihre Urgroßmutter Opfer der NS-«Euthanasie» geworden war.Die Oma hatte als Kleinkind den Schock erlebt, plötzlich und völlig ohne Erklärung ihre Mutter zu verlieren. Da diese Oma das Mädchen großzog, übertrug sich der Schock auf das Enkelkind.
Dass es so ein tiefes Schweigen um die Ermordung von «Euthanasie»-Betroffenen in der Nazi-Zeit gibt, hat verschiedene Gründe. Einer kann sein, dass oft einzelne, sehr nahe Verwandte eine Mitschuld an der Einweisung einer Person (gar Bruder, Schwester oder Vater) trugen, die dann in weiterer Folge zur Ermordung führte. Dem jungen Kärntner Politikwissenschaftler Bernhard Gitschtaler ist es nun gelungen, das Thema anders anzugehen: Er befragte unter anderem Neffen und Onkel, also etwas entferntere Verwandte, die zum Teil selbst schon Nachforschungen gestartet hatten; die zwar mitbetroffen, aber noch handlungsfähig und neugierig waren.
Gitschtaler hat biografische Interviews teils mit ganzen Familien und in verschiedenen Generationen geführt. Alle Beteiligten litten – zum Teil ohne es zu wissen und nur von einer vagen Ahnung begleitet – an der Leerstelle, die ihre Angehörigen hinterlassen hatten. Eine «Trauerwolke» hing über der Familie, eine seltsame Melancholie, flottierende Gefühle, die keiner festmachen konnte.
Die soziale Stigmatisierung und fehlende gesellschaftliche Anerkennung ist besonders bei psychisch Kranken bis heute sehr groß. Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche «Trauerarbeit» sind nach wie vor von Scham und Scheu geprägt. Gitschtaler hat eine schwierig zu interviewende Gruppe im Gailtal befragt. «Gemeinsam ist allen interviewten Familien, dass sie erst seit wenigen Jahren über ein vorhandenes Euthanasie-Opfer im nahen Umfeld wissen.»
Geerbtes Schweigen. Die Folgen der NS-«Euthanasie»
Otto Müller Verlag 2016
260 Seiten, 19 Euro