Unreif für den Abrisstun & lassen

Immo Aktuell

Schon lange steht die in Wien praktizierte Methodik der «wirtschaftlichen Abbruchreife» in der Kritik. Nun kommt Bewegung in die Sache. Eine Bestandsaufnahme.

TEXT: CHRISTIAN BUNKE
ILLUSTRATION: MUCH

Was haben Denkmalschüt­zer:innen und Klimaschüt­zer:innen gemeinsam? Beide sehen es kritisch, wenn Altbauten einfach abgerissen werden, um Neubauten Platz zu machen. So schreiben etwa die österreichischen Architects For Future auf ihrer Webseite: «Nicht nur werden wertvolle und ­schwindende Ressourcen bei einem Abriss und Neubau verschwendet, sondern auch bedeutend mehr Energie. Bei der Betrachtung der Energiebilanz des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fällt auf, dass durch den Einsatz von ­grauer Energie jede Sanierung selbst dem Bau von Passivhäusern vorzuziehen ist.»
38 Prozent aller CO2-Emissionen entfallen laut UN-Angaben auf die Baubranche. Ein Hauptverursacher ist die Zementherstellung. Die Stadt Wien plant im Rahmen ihrer Smart-City-Strategie zwar bis 2040 «die Wiederverwendbarkeit von mindestens 70 Prozent der Bauelemente, -produkte und -materialien von Abrissgebäuden und Großumbauten» sicherzustellen. Unter klimabewussten Architekt:innen und Denkmalschützer:innen wird diese Ansage wohl kaum jemand falsch finden. Aber am liebsten wäre es wohl vor allem Letzteren, wenn die Zahl der in Wien stattfindenden Abrisse auf ein Mindestmaß reduziert würde.

Schutzunwürdig?

Doch Beobach­ter:innen der Szene sind der Auffassung, dass immer noch viel zu viel historische Bausubstanz dem Erdboden gleichgemacht wird. So schrieb Georg Scherer auf seinem Blog Wienschauen.at erst kürzlich über den geplanten Abriss eines Gründerzeithauses in der Beheimgasse 49 in Hernals. Dieses wurde laut einer über dem Hauseingang angebrachten Plakette zwar bereits im Jahr 1868 errichtet. Für schutzwürdig hält die zuständige MA 19 das Haus jedoch nicht. Begründung und Methodik dieser Bewertung ­seien nicht öffentlich zugänglich, klagt Scherer.
Dabei ist es schon ein Fortschritt, dass sich die MA 19 überhaupt mit durch Abriss bedrohten Häusern befassen muss. Denn bis 2018 war nur die Wiener Altbausubstanz innerhalb von Schutzzonen vor dem Abbruch sicher. Dann wurde das Baurecht dahingehend verschärft: Für alle vor 1945 errichteten Häuser braucht es bei ­einem geplanten Abriss die Zustimmung der MA 19. Damit gibt es seitdem auch für Altbauten außerhalb von Schutzzonen ein gewisses Maß an Sicherheit. «Die Bauordnungsnovelle vom Frühsommer 2018 war ein wichtiger Meilenstein», kommentiert dazu die Initiative Denkmalschutz in einer Aussendung vom 30. September. Mit dem § 60 der Wiener Bauordnung existiert jedoch über die sogenannte «wirtschaftliche Abbruchreife» ein praktisches Instrument, um eine solche Zustimmung zu erlangen. Ein Haus darf demnach niedergerissen werden, wenn «sein Bauzustand derart schlecht ist, dass die Instandsetzung technisch unmöglich ist oder nur durch wirtschaftlich unzumutbare Aufwendungen bewirkt werden kann».

Baunormen für Altbau?

Wie gelangt nun ein:e abrisswütige:r Hauseigentümer:in in den Besitz einer «wirtschaftlichen Abbruchreife»? Er heuert eine:n Gutachter:in an. Diese:r stellt fest, dass eine Sanierung für den:die Eigentümer:in unleistbar wäre, ein Abriss jedoch billiger käme. Für Hauseigentümer:innen scheint hier eine Win-win-Situation zu ­bestehen. «Es ist immer die Frage, ob die Baupolizei vor Ort überhaupt nachprüft, ob die Angaben im Gutachten stimmen. Die Baupolizei hat nicht das Personal dazu», so die Auffassung von Georg Scherer auf Nachfrage. Problematisch sei auch, dass bei der Bewertung einer Abbruchreife sogenannte «Baunormen» ins Spiel kämen. «Die Baunormen sind komplett auf Neubauten zugeschnitten», so Scherer. «Dadurch werden Sanierungen noch einmal teurer, wenn sie ­einen Altbau auf das Niveau eines Neubaus heben ­sollen.» Baunormen seien Bundessache, würden aber in die Bauordnungen der Bundesländer einfließen, so Scherer abschließend.
Die Initiative Denkmalschutz kritisiert zusätzlich die Rolle des Wiener Altstadterhaltungsfonds. Dessen Aufgabe ist es eigentlich, Gelder für erhaltenswerte und sanierungsbedürftige Altbauten locker zu machen. Doch «sind zu geringe Fördersummen vorhanden, wird ein Altbau allein deswegen als in seinem Bauzustand zu schlecht deklariert», so die Initiative. Dabei seien Eigentümer:innen eigentlich zum Erhalt ihrer Häuser verpflichtet. «Dass dann viel zu oft der schlechte Bauzustand die Begründung für eine Abbruchbewilligung bildet, ist aufklärungs- und auf jeden Fall reformbedürftig.»
Für beides, Aufklärung und Reform, gibt es am 9. und 10. November eine Chance. Dann führt die Stadt Wien eine sogenannte «Fach­enquete» durch. Deren Ziel ist die Einholung von Expert:innen-Meinungen zu zahlreichen ­Aspekten der Wiener Bauordnung, die in eine ­große, für das Jahr 2023 geplante Novelle der Wiener Bauordnung einfließen sollen. Nicht nur der Augustin dürfte gespannt sein auf das, was kommt.