Unrest – CFSDichter Innenteil

Chronisches Erschöpfungssyndrom und die Ignoranz der Medizin

Ich suche nach einem interessanten Thema und gehe ins Internet. Die Dokumentation einer erkrankten jungen US-Amerikanerin, Jennifer Brea, nimmt mich voll in ihren Bann. Es ist ihre persönliche Geschichte und Erfahrung. Ich lese die Kurzbeschreibung des Inhalts, werde hellhörig und weiß, auch dieses Thema wird nicht einfach werden. Nun gerade deshalb klicke ich dennoch auf Start.

Grafik: Jella Jost

Vorab einige Fakten: Drei Viertel aller an Chronischem Erschöpfungssyndrom Erkrankten sind weiblich. Die Forschungen, die international im Gange sind, werden hierzulande meist ignoriert und Ärzte nicht entsprechend ausgebildet, was dazu führt, dass die Erkrankung nicht erkannt wird, nicht frühzeitig optimal behandelt, um Schlimmeres zu verhindern. Stattdessen werden oft Diagnosen nach internationaler Klassifikation psychischer Störungen erstellt, die unter unfassbaren Umständen innerhalb der Justiz recht grausam enden können, wie zum Beispiel ein tatsächlich dramatischer Fall in Dänemark, wo gegen den Willen der Eltern ein junges Mädchen aufgrund dieser Erkrankung falsch diagnostiziert und zwangsweise in die interne Psychiatrie versetzt wurde. Ihre Eltern dürfen ihre Tochter seit über einem Jahr nicht sehen. Das ist ein unfassbarer Psychiatrie- und Medizin-Skandal. Dieser Film ist also ein genialer Streich einer wirklich mutigen Betroffenen, die diese Sache nicht auf sich sitzen lässt und trotz ihres massiven Leids alles tut, um aufzuklären. Eine in der Tat brisante und hochaktuelle Dokumentation!

«Ich schätze, ich hatte mittlerweile weit über 6000 Patienten mit Chronischem Erschöpfungssyndrom. Der einzige Ort, an dem CFS nicht existiert, ist in den Hirnen kleinkarierter Ärzte.» Dr. Sarah Myhill

Betroffen gemacht durch den Film, gehe ich anschließend auf die Suche nach weiteren medizinischen Fakten und Details, wie zum Beispiel auf die Website der CFS-Hilfe Österreich und komme aus dem Staunen und Entsetzen ob unserer medizinischen Ignoranz nicht mehr heraus. Die Erkrankung wird missverstanden. Viele glauben, dass Betroffene ihre Symptome nur einfach «ignorieren» müssen und durch «körperliches Training und Sport» wieder gesund werden würden. Eine medizinisch fatale Fehleinschätzung, die immer wieder zu irreversiblen Schäden führt und zu weiteren Zusammenbrüchen. CFS ist als eine schwere, chronische und nicht heilbare, neuroimmunologische Multisystemerkrankung anerkannt (WHO Klassifikation G93.3. In Großbritannien wird sie auch als ME, Myalgische Enzephalomyelitis, ME bezeichnet). Das bestätigen auch die Zahlen von Statistik Austria, nach denen in den Kliniken nur 45 Fälle pro Jahr registriert wurden, obwohl mehr als 30.000 Menschen in Österreich aller Altersstufen und sozioökonomischer Gruppen und weltweit sogar 17 Millionen Menschen an dieser Erkrankung leiden. Alle Erkrankten stehen unter einem intensiven Leidensdruck, obwohl theoretisch die unerträglichen Symptome zu lindern wären. Oft führt diese Verzweiflung darüber, von Ärzten nicht ernst genommen zu werden, in den Suizid als letzte Lösung. Ist das unser aktueller medizinischer Stand in Österreich? Herr Kurz posaunt den Wirtschaftsfaktor Österreich hinaus? Ich zücke mein türkis-blau-kleinkariertes Taschentuch angesichts eines medizinischen Rückschritts in Retro-Spitals-Strukturen, Zwangspsychiatrien, die mitnichten internationale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nach Österreich anziehen werden, da hilft auch keine teure Privatordination. Die Regierungsverantwortlichen sollten ihrem Alter entsprechend handeln – ergo zeitgemäß!

90 Prozent der Fälle werden falsch diagnostiziert, wie z. B. mit Depression, Burnout oder somatoformer Störung

Internationale Fachärtz_innen weisen explizit darauf hin, wie essenziell die Erforschung der Krankheit ist. Die Mediziner David Bell, einer der Pioniere der CFS-Forschung und Anthony Komaroff, CFS-Forscher an der Harvard Medical School, berichten: «Die schlechte Nachricht ist, dass wir nicht wissen, was das Chronische Erschöpfungssyndrom verursacht oder wie man es erfolgreich therapiert. Die gute Nachricht ist, dass es mittlerweile über 4000 veröffentlichte Studien gibt, die die zugrundeliegenden, biologischen Abnormitäten festhalten. Es ist keine Krankheit, die als Außenstehender vorstellbar ist, und auch keine psychische Erkrankung.» Dr. Bell: «Es ist ein unglücklicher Umstand, dass unsere Kultur noch nicht in der harten Realität der chronischen Erkrankungen angekommen zu sein scheint, meist sind ihre Auswirkungen nicht direkt sichtbar. Aber die Krankheit ist mit einem starken Stigma besetzt, die schwere Bürde durch diese Erkrankung ist demnach meist noch größer als durch andere chronische Krankheiten. Die Welt scheint zu glauben, dass Menschen mit CFS sich einfach zusammenreißen könnten, wenn sie nur wirklich wollen würden. Diese komplett falsche Auffassung der Erkrankung ist so weit verbreitet, dass viele Patienten – vor allem die langzeitisolierten – anfangen zu denken, sie seien ‹möglicherweise nur verrückt›.»

Mediziner_innen gehen davon aus, dass die Energieaufnahme und Energieabgabe der Mitochondrien, unsere Kraftwerke im Zellkern, nicht ausreichend funktioniert. Immunsystem, Nervensystem, Stoffwechsel und hormonelles System weisen biomedizinische Anomalien auf. Mit der Diagnose CFS haben Betroffene die niedrigste Lebensqualität im Vergleich zu Patient_innen mit Lungenkrebs, chronischem Nierenversagen, rheumatoider Arthritis oder Schlaganfall. Bis zu 80 Prozent der Betroffenen sind nicht mehr arbeitsfähig, und schwer Betroffene werden zum Pflegefall. Derzeit existiert kein zugelassenes Medikament und keine Standardtherapie. Viele verlieren durch die Einschränkungen ihre Arbeit, Partner_innen, Freund_innen, Lebensqualität, leiden an der Stigmatisierung und gleiten in die Isolation ab. Ein altbekanntes Phänomen bei schweren Erkrankungen. Moderne fortschrittliche kooperative Ansätze sind hier gefragt und nicht ein Leugnen der Fakten, die den Weg in eine Verbesserung ebnen würden. Zum Beispiel rechtzeitige eindeutige Diagnose und fachkundige Behandlung sind essenziell und führen zu einer besseren Prognose und Entlastung der Patient_innen. Auch die Miteinbeziehung der Erkrankten bei der Therapieplanung, mit besonderer Rücksicht auf die Einschränkungen, ist absolut wünschenswert.

Es erinnert an die Anfänge von HIV in den 80er-Jahren

Zurück zur betroffenen Jennifer Brea. Sie ist eine erfolgreiche Harvard-Studentin und frisch mit ihrem Kollegen verheiratet, als die Erkrankung im wahrsten Sinne des Wortes apokalyptisch über sie hereinbricht. Ihr Leben stellt sich auf den Kopf, sie kriecht nur mehr auf allen Vieren, der gesamte Körper schmerzt fiebrig wie bei einer Grippe, sie hat enorme Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern, kleinste Licht- oder Geräuschquellen sind eine Tortur, sie leidet Qualen und benötigt Pflege fast rund um die Uhr. Brea beginnt sich mit dem Smartphone in allen Situationen ihres Alltags zu filmen. Die Zuseher_innen nehmen Teil an ihrem Schmerz, an ihrer anfänglichen Ohnmacht und an ihren zahlreichen Gängen ins Krankenhaus. Dazwischen zeigen sich jedoch immer wieder kurze Phasen voll Energie, wo sie tatsächlich wieder für nur kurze Zeit normal laufen und sich bewegen kann bis ein neuerlicher totaler physischer Einbruch sie zu einer Schwerkranken macht. Simulation ist leider eine der Verdächtigungen von Bekannten oder Ärzt_innen, die aber selten ausgesprochen wird und die leidenden Personen schwer schädigt. Jennifer Brea geht hier aktiv aus einer Opferrolle heraus in die Öffentlichkeit, sie schließt sich Protestgruppen – allesamt betroffene Frauen – an, um für internationale Aufklärung zu kämpfen. In den Anfängen der HIV-Erkrankung war auch die erste Reaktion eine Diffamierung und Ausgrenzung der homosexuellen Communities. Langsam über Jahrzehnte wurde allen bewusst, dass die Erkrankung jede_n treffen kann.

«Auf dem HIV-Medikament Abivax ruhte die Hoffnung von Millionen», schrieb eine Zeitung, und die Börsenmagazine empfahlen ihren Leser_innen, in das Unternehmen zu investieren. Der Aktienkurs schoss in die Höhe. Der Rubel rollt, na geht doch! Von einem Betroffenen erfahre ich persönlich in einem Gespräch Folgendes: «Wir haben einige Kranke, die in die Psychiatrie eingewiesen wurden aufgrund von Fehldiagnosen. Nicht bloß ‹früher› wurden Frauen weggesperrt, in Psychiatrien, aufgrund (bewusst) falscher Diagnosen, auch heute. Vor allem ältere männliche Ärzte wollen CFS nicht wahrnehmen», sagt man mir, «der Staat, die Versicherungen haben große Angst, dass es diese Krankheit tatsächlich gibt und versuchen seit 20 Jahren eine Aufklärung nicht zuzulassen. 30.000 – 50.000 Dollar pro Jahr pro Betroffene sind die Kosten.» Ich frage nach, ob die USA offensiver, klüger im Bewältigen neuer Entwicklungen sind? «Ja, Österreicher hängen mehr an veralteten Traditionen und verbauen sich dadurch wirklich effiziente moderne Medizin und Forschung. In Los Angeles gibt es ein Gesetz, das CFS-Kranke schützt!» Sich über Schwerkranke lustig zu machen, sie zu verhöhnen oder sogar erworbene Rechte wieder abzubauen widerspricht menschlichen Grundrechten und macht eine Gesellschaft und damit auch ihre Politik kaputt. Wir sind am besten Weg dahin. Es braucht eine vereinte europäische Öffentlichkeit.

INFO

Doku «Unrest» auf Netflix

Hauptdarstellerin, Drehbuch und Regie: Jennifer Brea

www.unrest.film

Homepage der privaten Initiative CFS-Hilfe:

cfs-hilfe.at

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