Unser letztes Hemdtun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Eing'Schenkt

«Es war Normalität, auf nichts ein Recht zu haben, ­weder auf Teilhabe noch auf Ablenkung noch auf Freude. Wer arm ist, hat keine Freude zu haben», erinnert sich ­Daniela Brodesser in ihrem Buch Armut über die Zeit, als sie in Armut lebte. «So weit hatte mich die Beschämung gebracht.» An einem Abend aber, an dem sie und ihre Kinder rund um einen Schwimmbadbesuch arg gedemütigt wurden, verlief irgendetwas anders. «Ich wollte und konnte es nicht mehr hinnehmen», schreibt Brodesser. Sie packte ihre Wut und ihre Verletzung in einen schlichten Tweet. Die Reaktionen waren riesig. Hunderte, die ähnliches erleben und erlebt haben, meldeten sich zu Wort. «An diesem Abend war ich überwältigt.» Traurig, weil ihr bewusst wurde, wie wenig wir über Armut wirklich wissen wollen, aber gleichzeitig glücklich endlich zu sehen: «Ich bin nicht allein damit.»
Vor dem Ministerrat hängen am 19. April Hemden und ­T-Shirts auf einer Leine quer über den Wiener Ballhausplatz gespannt. In Armut müssen tausende Menschen «das ­letzte Hemd» hergeben, wie zum Beispiel: ihren Job, ihren guten Wohnraum, ihre Gesundheit, ihre Sicherheit, ihre Erholung, ihre Würde, ihre Sicherheit, die Bildungschancen ihrer Kinder, ihre ­Lebensqualität, ihren Notgroschen, ihre Hoffnung. Gespannt wurden die Hemden von Armutsbetroffenen aus ganz Österreich. Die Plattform Sichtbar Werden ist ein Zusammenschluss von Menschen, die selbst von Armut betroffen sind oder Armutserfahrungen haben. ­Gemeinsam machen sie vor dem Ministerrat mit einer Aktion ihr «letztes Hemd» sichtbar. Es geht um soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich statt Armut und Beschämung. Eindringlich bringen sie die Situation von Tausenden im Land, die sonst gerne übersehen werden, ans Licht: Wir sind armutsbetroffen, wir leben unter der Armutsgrenze, die Teuerung nagt an unserer Existenz – es geht um unser letztes Hemd! Es geht um unsere Wohnungen, es geht um unsere Gesundheit, es geht um ­unsere Kinder – es geht um unser letztes Hemd! Am Ende des Geldes ist zu viel Monat über – es bleibt uns nur mehr unser letztes Hemd!
Leben ist mehr als Überleben. Was es jetzt braucht, um Armut zu ­bekämpfen, formulieren die Betroffenen auf ihrem Flugblatt, das sie vor dem Ministerrat verteilen:

… leistbares Wohnen: Mietpreisbremse, verbesserte Wohnbeihilfe, sozialer Wohnbau
… existenzsichernde Sozialleistungen: Reform der schlechten Sozialhilfe, Valorisierung und Erhöhung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe
… bessere Löhne vor allem in schlecht bezahlten Jobs, gegen die Prekarisierung von Arbeit
… leistbare und gute Kindergartenplätze mit gesunder Jause und Mittagessen
… gut zugängliche und hochwertige Gesundheitsversorgung: leistbare Therapieplätze und Heilbehelfe
… die Einführung einer Energiegrundsicherung und
den Ausbau eines einkommensabhängigen Klimabonus

Das alles kann helfen und Armut verringern. Und sich zusammenzutun: Ich bin nicht allein damit. «Dieses Gefühl, nur ich schaffe das nicht, nur ich versage, wird weniger allmächtig», sagt Daniela ­Brodesser. «Je mehr Menschen sich vernetzen, desto mehr Bewusstsein entsteht ­darüber, dass Armut ein strukturelles Problem ist. Und desto weniger funktioniert Beschämung.»

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