Schwerstarbeit ohne Sicherheitsnetz
Am sogenannten Wiener Arbeiterstrich bieten sich Männer aus Osteuropa mit ihrer Expertise und Erfahrung für Jobs am Bau an. Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Fotos) haben an der Triester Straße einige von ihnen getroffen.
Um halb sieben in der Früh entfaltet der Matzleinsdorfer Platz eine für seine Verhältnisse gemäßigte Geräuschkulisse. Unterirdisch halten Züge der Straßenbahnlinien 1, 6, 18, 62 und der Badner Bahn, über eine Trasse verkehren S-Bahnen und Regionalzüge. Die Triester Straße, die hier am Margaretengürtel ihren Anfang nimmt, um durch Favoriten und Liesing hindurch auf die Südautobahn zu führen, ist wegen der U2-Bauarbeiten auf vier Fahrspuren begrenzt worden. In direkter Nachbarschaft zu den Bauzäunen erschließt sich rund um Obi-Markt und Shell-Tankstelle ein Asphaltgelände, das wie ein Prototyp dessen wirkt, was die Sozialwissenschaft seit Marc Augé als Nicht-Ort kennt. Ein monofunktionaler städtischer Transitraum also, ohne eigene Identität, dessen Benutzung Regeln und Verbote vorgeben. Wer beim Obi einkauft, darf den Parkplatz drei Stunden lang nutzen. Im Außenbereich der Tankstelle hängen Schilder aus, die das Hinsetzen untersagen.
Lohndumping.
Das schwarze Piktogramm eines Sitzenden im roten, durchgezogenen Kreis baut auf sprach- und kulturunabhängige Verständlichkeit. Seine Adressaten sind Männer, die aus verschiedenen osteuropäischen Ländern stammen und die es gewohnt sind, lange zu warten. An diesem Donnerstag im Juli haben sich etwa 30 von ihnen in Kleingruppen auf dem ausgetrockneten Grasstreifen zwischen Gehsteig und Tankstellengelände versammelt. Die meisten der 19- bis 58-Jährigen tragen über bedruckten T-Shirts Rucksäcke. Einige halten ein Bier, eine Zigarette oder einen teuren Energy-Drink in der Hand. Das günstigere Alternativprodukt ist im Tankstellenshop schon seit Tagen ausverkauft.
Als ein Kleintransporter mit niederösterreichischem Kennzeichen in der Auffahrt stehen bleibt, rennen ihm einige der Männer entgegen. Er suche drei Schleifer, sagt der Fahrer über das heruntergelassene Fenster hinweg. Ob damit jemand Erfahrung habe? «Sicher», antwortet ein Mann aus Bukarest, der wegen seiner guten Deutschkenntnisse zum Vertreter seiner Kollegen aufsteigt. Zuerst wolle er aber über Geld reden. Da sich sein Verhandlungspartner nicht bereit zeigt, mehr als sieben Euro pro Stunde zu zahlen, winkt er ab. «Die Albaner haben den Markt kaputtgemacht», sagt er hinterher, begleitet von Flüchen. «Die arbeiten für sechs.»
Sein serbischer Kollege pflichtet ihm bei: Eine Tochterfirma von Strabag habe ihm, einem ausgebildeten Schlosser, nicht einmal sieben Euro pro Stunde ausgezahlt. Monatelang habe er 13 Stunden täglich mit Eisen gearbeitet und dabei Anweisungen von jemandem entgegennehmen müssen, der keinen Bauplan habe lesen können. Dass man ihn bei der SVA anmeldete, sei das einzig Gute, was er über das Unternehmen zu sagen habe. Zumal dokumentierte Beschäftigungsverhältnisse hier, am sogenannten Wiener Arbeiterstrich, die verschwindend seltene Ausnahme sind.
Milan Mijalković, der im blauen Leinenanzug an einem Betonpfahl lehnt, nickt ernst. Der gebürtige Mazedonier ist zum Übersetzen mitgekommen. «Hier wird eine Mischung aus slawischen Sprachen gesprochen», sagt er. «So versteht auch ein Tscheche einen Bulgaren.» Trotzdem fällt Mijalković auf die Frage eines Landsmannes nach seinem eigentlichen Beruf zuerst keine passende Antwort ein. «Künstler, wie sagt man da?», fragt er einen der Männer. Dass er ausgebildeter Architekt sei, fügt er noch hinzu. Das hat auch auf dem Bau Gewicht.
Sichtbarmachung.
Der Wiener Arbeiterstrich als sichtbare und gemeinhin ignorierte Vorhut eines riesigen Schwarzarbeitsmarkts beschäftigt Mijalković schon seit seinem Studium, das er 2001 in Wien begann. 2016 entstand die «Arbeitsstrich-Sammlung», eine Reihe von Alben, die heimlich aufgenommene Fotos einzelner Arbeiter von ihren Einsatzorten versammelten. Im gleichen Jahr nahm Mijalković an einer Gruppenausstellung im frei_raum Q21 zum 50-jährigen Jubiläum des Gastarbeiter-Abkommens zwischen Österreich und der Republik Jugoslawien teil. Auf mannshohen Sockeln positionierte er vor den Eingängen zwei undokumentiert beschäftigte Bauarbeiter, die das Eintreffen des damaligen Außen- und Integrationsministers abwarten sollten. Einer von ihnen schüttelte schließlich dem lachenden Sebastian Kurz die Hand.
Grundüberlegung für sein neuestes Kunstprojekt, das den Titel «Die Wiener Maria» trägt, ist laut Mijalković die Frage: «Welche anerkennende Geste bringt jeder von uns denjenigen, die körperlich herausfordernde Arbeiten für ihn erledigen, entgegen?» Das Glas Wasser als existenzieller Minimalkonsens wurde zum mobilen Brunnen. Gefördert mit Mitteln des Bundeskanzleramts, ließ Mijalković dafür nach seinen Entwürfen eine weibliche Brust mit einem Durchmesser von zwei Metern und einer porzellanartigen Oberfläche gestalten. Als Symbol gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Mutter und Kind ebenso wie zwischen Arbeiter und Arbeitgeber macht diese, montiert an einem Kleinlaster, in der letzten Augustwoche täglich an der Triester Straße, der Brünner Straße und der Herbststraße Station. Über die Warze wird kaltes Wasser freigegeben. Ein Spiel mit Aufmerksamkeit und Vorurteilen, das, so erwartet es auch Mijalković, provoziert. An einer Seite des Fahrzeugs hat er Auszüge aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 anbringen lassen. «Jeder hat das Recht auf Arbeit und freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen», lautet der erste Satz.
Sicherheitslos.
Fernab von Debatten um Lohnnebenkosten, Kollektivverträge und den Zwölf-Stunden-Tag schafft sich der Sozialstaat in der Wiener Peripherie in stoischer Gelassenheit jeden Tag aufs Neue ab. Die Männer an der Triester Straße, undokumentiert Arbeitende ohne festen Wohnsitz in Österreich, kennt die Gesetzgebung schlicht als «nicht Anspruchsberechtigte». Wer nämlich, so berichten es einige von ihnen, ohne Arbeitsvertrag bei einem Privatvermieter unterkommen wolle, zahle für ein Bett im Viererzimmer bis zu 300 Euro, erhalte dazu im Regelfall keinen Mietvertrag und folglich keinen Meldezettel. Einige weichen im Winter in die Nacht- und Notquartiere von Obdach Wien, Rotem Kreuz, Volkshilfe und Samariterbund aus. Zur medizinischen Versorgung von leichten Arbeitsunfällen wenden sich die meisten an den Louisebus der Caritas.
Nicht nur sind die Männer im Regelfall während ihrer Arbeit auf Privat- und Großbaustellen weder sozial- noch kranken- oder unfallversichert. Es trägt auch niemand die Illusion, ein Unternehmen würde im Ernstfall seiner Fürsorgepflicht nachkommen. Täglich, sagt ein junger Serbe, werde mindestens einer von ihnen um den ausgemachten Lohn betrogen. Vom Verein UNDOK zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender, der aufgrund massiver Budgetkürzungen vorerst sein Beratungsangebot reduzieren musste, hat hier noch niemand etwas gehört.
Die Frage, warum die Männer trotz aller Unsicherheiten und Gefahren jeden Morgen wieder herkämen, ist schnell beantwortet. «Mazedonien ist zurzeit eine Katastrophe», sagt ein Ende-40-Jähriger in Richtung Mijalković. «Zurzeit» heißt seit 19 Jahren: So lange schon verbringe er jeweils drei Monate alternierend in Wien und der Heimat. «Ich habe zwei Kinder. Was soll ich machen?», fragt er. Bis zur Mittagszeit, wenn die Sonne über der Triester Straße im Zenit steht, wenn sich die Autos stauen und der Asphalt zu glühen beginnt, wird er warten, vielleicht auch ein wenig länger. Und morgen, sagen er und seine Kollegen, kämen sie wieder.