Unterwegs zur Göttin des VergessensArtistin

"Okaasan" - Die Suche nach der Mutter als Reise zu sich selbst

Milena Michiko Flaar ist eine Dichterin der inneren Extreme: Ihre Texte pendeln zuweilen zwischen rauschhaften Eskapaden einer Künstler-Bohème und heilig-nüchternen Ekstasen der Meditation. In Flaars zweiten Buch «Okaasan Meine unbekannte Mutter» begibt sich die Protagonistin auf die Suche nach der allumfassenden Mutter und landet schließlich bei sich selbst.Schmal im Umfang, jedoch umfassend auf inhaltlicher Ebene so lässt sich das neue Buch der 1980 in St. Pölten geborenen Milena Flaar charakterisieren. Im Text spannt sich ein poetischer Kosmos zwischen Erinnern und Vergessen, Leben und Sterben, Suchen und Finden auf. Wir begegnen einer Frau namens Franziska, deren Konfrontation mit der Krankheit und dem Sterben der eigenen Mutter die Frage nach dem Ende und damit auch dem Anfang aller Dinge auslöst. Wie Teile eines im unendlichen Raum verstreuten Puzzles setzen sich einzelne Erinnerungs- und Wahrnehmungsbilder zu einem größeren Sinnmosaik zusammen. Im Verschwinden der realen Mutter erscheint für Franziska eine andere, zunächst ungreifbarere, am Ende aber ungleich deutlichere Beziehung zum Leben.

Ein verstörtes, «silbriges Lachen» der Mutter legt sich wie ein melancholisches Vorzeichen über den ersten Teil des Buches, in dem die Ich-Erzählerin einen tagebuchartigen «Brief zum langen Abschied» formuliert. Während ihre Mutter langsam in ein alles umschließendes Vergessen gleitet, versucht Franziska zunächst noch, die wachsende Fremdheit mit Fragen und Beschwörungen von Erinnerungen zu überbrücken. Die Begleitung des Sterbens wird für sie zu einem Lernprozess, mit inneren wie äußeren Widerständen umzugehen: «Kenn ich dich, Mutter? Hat es dich vor mir gegeben oder bist du, bevor es mich gab, eine Andere gewesen? Ich helfe Schwester Beata dich auszukleiden und schaue auf eine Nacktheit, als ob sie mir etwas über dich verraten könnte», heißt es an einer Stelle, die in berührender Dichte von der allmählichen Umkehr des Mutter-Tochter-Verhältnisses erzählt.

Der endgültige Tod der Mutter verwandelt sich für Franziska schließlich in den Auftakt zu einer Selbstsuche, von dem der zweite Teil des Buches berichtet. Von einem Freund namens Gaurish und einer verwirrten Heiligen namens Frau Winter auf die Spur gebracht, reist Franziska nach Indien, um dort auf Amma, die große Mutter und Göttin des Vergessens, zu treffen.

Figuren, die sich im Schreiben verselbständigen

Nicht alle Leserinnen und Leser werden diesem abrupten Wendepunkt im Text folgen wollen aber eben darin kulminiert auch die widersprüchliche Qualität von Milena Flaars Literatur: Sie konstruiert ihre Texte nicht, sondern folgt einem inneren Strom, einer «Hingabe», die das Schreiben in Nähe der kontemplativen Ekstase des Meditierens rückt. «Ich hatte nicht die Absicht, einen Text über Demenz zu schreiben», erzählt sie über das Entstehen von «Okaasan». «Meine Figuren verselbständigen sich im Schreiben, meine Aufgabe ist es nur, ihnen zu folgen. Und im Schreiben liegt für mich wie im Gebet eine elementare Kraft der Verwandlung.» Und obwohl sich in der literarischen Mutter auch Spuren der biographischen Mutter finden, erübrigt sich angesichts einer solchen Schreibhaltung eine allzu kleinkarierte Rückrechnung des Textes auf das Leben.

Flaars Schreiben erscheint nicht nur in seinem eruptiven Gestus unzeitgemäß. Wie in ihrem Debüt «[Ich bin]» (2008) folgt sie auch diesmal keinem ausgeklügelten Masterplan, sondern praktiziert einen poetischen Kontrollverzicht, der dem Innenraum ihrer Figuren erst die Möglichkeit zur Entfaltung gibt. «Konstruktionspläne habe ich nie das würde mein Schreiben hindern», bekennt sie. «Bei mir ist es eher so, dass der Text schreibt oder Es schreibt, als dass ich schreibe.» Konsequenterweise verzichten Flaars Texte auf stringente äußere Rahmenhandlungen zugunsten des «inneren Geheimnisses der Figuren», wie die Autorin es nennt. Im Akt des Schreibens fühlt sie sich wie «in einem Raum, in den man sich einklinkt und in dem alles schon da ist und nur noch zu Papier gebracht werden muss».

Zu wenig zynisch, zu wenig ironisch? Was für ein Vorwurf

Milena Flaars Texte haben eine ursprüngliche Kraft, die sich im professionellen Literaturbetrieb verstörend ausnehmen weit entfernt von zeitgenössischen Skandalnudeln wie der «Feuchtgebiete»-Reporterin Charlotte Roche oder der zunächst zum Wunderkind ausgerufenen und anschließend vom Feuilleton zur «geistigen Diebin» zurechtgeprügelten 17-jährigen Helene Hegemann («Axolotl Roadkill»). Flaars Schreiben mag neben solch kalkulierter Provokation vergleichsweise weltfremd, abgehoben oder hoffnungslos romantisch erscheinen. Keinesfalls verfällt sie jedoch einem hohlen Pathos des Wundersamen, wie ihn etwa der Vorarlberger Autor Robert Schneider in seinem Bestseller «Schlafes Bruder» zelebrierte. Eher folgt Flaar den außenseiterischen Fluchtlinien ihrer Figuren im Sinne der bohèmehaft-antibürgerlichen Existenzen in den Romanen Robert Walsers. Zudem sind gerade in den vergangenen Jahren in der österreichischen Literatur vor allem Autorinnen aufgetaucht, deren hoher poetischer Ton nicht weniger vom Zustand der Gegenwart erzählt als ihre lauthalsigen Klassenkameradinnen, sondern bei genauer Lektüre sogar mehr und auf hintergründigere Weise. Und so befindet sich Milena Flaar trotz ihres zunächst vielleicht entrückt anmutenden Tons in guter Gesellschaft von so ernsthaft arbeitenden Kolleginnen wie Andrea Winkler, Anna Kim oder Andrea Grill.

So unterschiedlich die literarischen Welten auch sind, die diese Schriftstellerinnen entwerfen: Ein gemeinsamer Nenner könnte in der dezidierten Abkehr von einer zynischen Haltung zur Welt liegen. «Irgendjemand hat mal gesagt, dass meine Texte zu wenig zynisch oder ironisch seien», merkt Flaar an, und in ihrem Erstaunen über diesen «Vorwurf» schwingt mit, dass sie eine solche Aussage auch als indirektes Lob empfindet. Denn im Zynismus liegt nicht zuletzt ein kolossaler Schutzmechanismus verborgen. «Meine Texte sind sehr unmittelbar und die Figuren darin ausgesetzt und verletzlich», bringt Flaar die poetische Haltung hinter ihrer Arbeit auf den Punkt. Eine solch radikale Schutzlosigkeit verlangt eben eine andere Sprache als die grassierend zynische ihrer vermeintlich coolen Zeitgenossen.

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