Streifzüge durch die fotografierte Stadt
Fassaden, die Geschichte erzählen. Rudolf Kohoutek speichert in «Wiener Grund» die Stadt ab, wie sie kurz vor der Finanzkrise, vor dem Investitions- und Neubauboom aussah. Lisa Bolyos ist auf seinen fotografischen Spuren durch Wien geschlendert.
Die «Vorzügliche Wr. Küche» gibt es noch, oder vielmehr: das Portal dazu in der Dornbacher Straße 35, dort, wo der 43er von Neuwaldegg kommend aus der Vollbadgasse Richtung Hernals abbiegt. Nicht nur vorzügliche Wiener Küche wurde hier kredenzt, sondern, so verspricht ein zweites, ebenso im Zerfall begriffenes Schild auf dem Windfang, auch «Erstklassige Hauer Weine». Der Hauer ist übrigens kein anderer als der Winzer, er hat seinen Namen von der Weinhaue, mit der im Weingarten händisch der Boden gelockert wird.
Hier am Eck, das eigentlich eine Kurve ist, reichen das unfeine und das feine Hernals sich die Hände; südostwärts schaut man Richtung Hernalser Hauptstraße, die zwar genau genommen Boulevardqualitäten hat, deren abgasgraue Fassaden aber Bände über die Wiener Wohn- und Verkehrspolitik sprechen. Nordwestlich liegt das schnuckelige Hernals des kontemplativen Spaziergangs, des gediegenen Achterls Veltliner, das Hernals des Lagezuschlags. Hier sind die Häuser renoviert und das Straßenpflaster poliert. Ein Schild auf einem frisch eingelassenen Holztor lässt wissen, dass derjenige, der hier wohnt, Immobilien «verwaltet und vermittelt». «Leben wie am Dorf zu Preisen wie in der Stadt», könnte sein Werbespruch sein.
Verfall ohne Kitsch.
Rudolf Kohoutek ist ein Sonntagsflaneur – aus fotografischem Pragmatismus: «weil viele Menschen hinaus ins Grüne gefahren sind und keine geparkten Autos den Blick auf die Häuser verstellen». Wenn er für seinen Bild- und Textband «Wiener Grund. Vermessung einer Liebe zur Stadt» durch die Gassen der Vor- und Innenstadt streift, findet er in den Erdgeschoßzonen Fassaden, Eingänge und unbeabsichtigte Architektur-Kombinationen, die ihm die Geschichte der Stadt und ihrer Entwicklung erzählen. Sein Band hält Wien knapp nach der Krise 2008 fest, bevor Immobilieninvestment gepaart mit Stadterneuerung «– wohl unvermeidlich – die alten, seit 1900 kaum veränderten Zinskasernen modernisiert, parifiziert, die abblätternden Mauern geglättet und – wo immer möglich – höhere Mieten verlangt oder niedrigere ältere Häuser abgebrochen und durch architektonisch oft dürftige Neubauten ersetzt werden». Ein Anflug von Nostalgie ist da schon, dass diese Stadt, in der Kohoutek selbst aufgewachsen ist, radikale Um- und Abbrüche erlebt – nicht ausschließlich zu ihrem Besseren.
Kohoutek setzt ihr mit seinen fast vierhundert Fotos dennoch ein kitschfreies Denkmal. Den Karl-Marx-Hof rückt er nicht als beeindruckenden Monumentalbau ins Bild, sondern speist ihn mit einem Ausschnitt ab, der auch von einem Einfamilienhaus im Wiener Speckgürtel stammen könnte: zwei Erdgeschossfenster die Augen, eine Kellerluke der Mund. Witterungsflecken, Korrosion, Ausbleichungen nehmen für den Stadtbeobachter Gestalt an: «extreme Mischwesen aus der Einwirkung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren». Ein Verteilerkasten hat durch freigelegte Rohre Beine bekommen; ein Rest von Verputz wird im Auge der Betrachterin zu einem Reptil; zwei lange nicht mehr geöffnete Fenster sind von innen durch Tellwolle, von außen durch Efeu «gedämmt». Das Kaputte, Vergessene verspricht schöne Fotos, aber Kohoutek weigert sich, dem «ästhetischen Mehrwert des Verfalls» in die Falle zu tappen. Die Sanierung einer Stadt erzählt ihm immer auch etwas über die «ökonomische Rangordnung» ihrer Bewohner_innen; und wo heute ein verträumter Blick auf verfallene Gemäuer fällt, kann morgen schon die Grätzel-Verteuerung einsetzen. Soll die Stadt gepflegt und hergerichtet werden, oder ist es gerade ihre «nachlässige Instandhaltung», sind es die «geringfügigen Illegalitäten der Baukultur», die sie charmant und lebenswert machen? Für einen wie Kohoutek muss der Widerspruch zwischen urbanem Gefühl und planerischer Vernunft bestehen bleiben.
Städtische Schatzsuche.
Wer lange in der Stadt wohnt und Zeit hat, sie aufmerksam zu durchstreifen, hat unvermeidlich ein Lieblings-Kleinod, ein Symbol, das für die Fortentwicklung steht oder für die Nischen, die ihr bisher entgangen sind. Am Lerchenfelder Gürtel zum Beispiel gibt es, trotz permanentem Autoverkehr sauber glänzend, ein entzückendes kleines Geschäftsportal mit dem geschwungenen Schriftzug der 60er Jahre: «Immobilien». Es ist ein Paradoxon der Stadtentwicklung. Es verweist auf eine Zeit, in der mit Immobilien gerade mal ein Kleinfamilienauskommen erwirtschaftet wurde. Angesichts des Abriss- und Neubaugeschäfts, dem Wien in den letzten zehn Jahren nachgegeben hat, hat es etwas Putziges, Unglaubwürdiges, beinahe Tröstliches.
Urbane Schätze dieser Art finden sich hundertfach in Rudolf Kohouteks «Wiener Grund». Dabei liegt ihm nicht so sehr daran, ehemals ernstgemeinte, heute witzig erscheinende Geschäftsnamen vorzuführen (nur manchmal gibt er nach und hält etwa das rosafarbene Wort «Ästhetik» auf einem abgeranzten Fußpflege-Portal im 20. Bezirk fest), sondern vermisst seine urbane Liebe an geometrischen Formen, die auf Hausfassaden entstehen, weil ein anderes Haus abgerissen wurde und nur die Silhouette zurückblieb oder weil Entlüftungsgitter mit alten Kellerfensterscheiben eigenwillige Tableaus bilden. In gemächlichem Tempo durchschreitet Kohoutek Wien – «kein Problem, solange ich noch rauchen darf». Wer seine «Vermessung einer Liebe zur Stadt» durchblättert, wird der Lust nicht widerstehen können, selbst schauen zu gehen.
Rudolf Kohoutek: Wiener Grund.
Vermessung einer Liebe zur Stadt
Park Books 2017, 224 Seiten, 38 Euro