Die Geschichte der Wiener Straßenzeitung Augustin, von fünf Seiten betrachtet. Dieser Essay erscheint im Juni in dem Band Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien, herausgegeben von Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic beim Sonderzahl Verlag.
Text: Lisa Bolyos
I. Vor der Jahrhundertwende erscheint ein neues Vagabund:innenblatt
Im Jahr 1995 wurde in Wien – wo genau und in welchem Moment, schon da gehen die Erzählungen auseinander – eine Zeitung gegründet, die zwei große Dinge wollte: Sie wollte eine gute Zeitung sein, guten Journalismus und gute Arbeitsbedingungen sichern, denn das fehlte in Wien. Und sie wollte in einem wechselseitigen Verhältnis stehen mit einer Form von Sozialarbeit, die progressiv mit Armut arbeitet. Die der Armut also nicht karitativ begegnet (Hier hast du was zu essen und zu schlafen, wasch’ dich mal und verhalte dich unauffällig!), sondern mit einem politischen Verständnis davon, woher die Armut kommt (aus der ungleichen Verteilung, ohne die der Kapitalismus zu Grunde ginge) und wohin die Armen gehen sollen (an die Öffentlichkeit). Diese Sozialarbeit macht sich kein romantisches Bild von Armut, sie macht sich auch kein romantisches Bild von Sozialarbeit, sie zieht los, um zu verkünden: Hier gibt es ein Problem, wir müssen versuchen, es gemeinsam zu bekämpfen. Diese Sozialarbeit macht sich aber auch kein lineares Bild davon, wie der Weg vom falschen zum richtigen Leben verläuft, und darum kann sie nicht wiedereingliedern oder resozialisieren oder disziplinieren oder fit machen für den ersten Arbeitsmarkt. Und darum kann sie auch nicht eingebettet sein in ein Fonds- oder Fördersystem eines Bundes oder einer Stadt. Sie muss unabhängig sein, um gegen sich selbst kritisch bleiben zu können. Sie kann nicht in Förderperioden denken, sie muss dem Geld selbst hinterher sein. Eine Zeitung zu verkaufen ist so eine Möglichkeit.
1995, das ist von heute betrachtet kurz vor der letzten Jahrhundertwende, was die ganze Angelegenheit noch ein bisschen geschichtsträchtiger klingen lässt, als sie ohnehin ist. Eine Gruppe von Leuten, die sich nicht despektierlich, sondern selbstempowernd als Sandler:innen bezeichneten, gründete mit einer Handvoll Journalisten und Sozialarbeiterinnen den Augustin und schaffte damit ein räudiges Medienimperium, das bald dreißig Jahre besteht. Die Gründer:innen gehen nach und nach in Pension oder sind wegen der schlechten Gesundheitsversorgung und dem schlechten Gesundheitszustand, den die Armut in dieser Gesellschaftsform mit sich bringt, schon gestorben. Die Erste österreichische Boulevardzeitung behauptet sich derweil auf der Straße, sie verschwindet nicht, die Umstände sind ihrerseits auch nicht so, dass sie unnötig geworden wäre.
II. Du sollst am Boulevard nicht jammern, aber bewahre dir doch die Freiheit, nicht alles gutzuheißen
Der erste motorisierte Boulevardarbeiter war Walter Szabo, ein Südburgenländer, der schon lange vorher zum Wiener geworden war. Zitat aus einem Interview wenige Wochen vor seiner Pensionierung: «Den Augustin liefer’ ich seit der ersten Ausgabe aus der Druckerei. Am Anfang waren das ein paar hundert Stück, die hätte man auch mit dem Moped führen können. Dass ich später alle zwei Wochen 25.000 Stück mit dem LKW fahren werde, hätte ich mir damals nicht träumen lassen.» Der Augustin wird in Wien gedruckt (nicht in Vorarlberg und auch nicht in der Slowakei, aber das ist eine andere Geschichte, eine Geschichte der erfundenen Fälschungen, eine Ente aus der Zeit, in der Fake News noch kein Begriff waren), weil die drei Kilometer Transportstrecke von der Druckerei zur Zentrale klimabedingt vertretbar erscheinen. Man darf applaudieren, der Augustin ist da wirklich sehr stolz drauf.
Die Doppelbedeutung des Boulevards liegt auf der Hand, aber man soll sich nie zu gut sein, Witze zu erklären. Am Boulevard wird die Zeitung verkauft, und ein Boulevardblatt ist sie, natürlich schon was Besseres als der Rest, was Zugängliches, etwas für alle, aber kein Schund, nichts, was sich im Leiden der anderen suhlt. Etwas für alle, das ist oft eine sprachliche Hürde, Sprache ist etwas sehr Identitäres, die linke Schreiberin hofft, ihre Wortfolgen von allen Widersprüchen freizumachen, sie herauszuschälen aus allem, was nicht gesagt, gemeint und hineingelesen werden soll. Eine unnötige Kunst, eine Kunst, die nicht gelingen kann, schon gar nicht so, dass sie verständlich bleibt. «Ich glaube, Leute, die keinen Magister haben, tun sich auch schwer damit, einen Augustin zu lesen», schrieb ein Leser. «Wenn ich ihn mit der AK-Zeitung vergleiche, finde ich diese eher fad, aber ich kann jeden Artikel bis zum Ende lesen.» Ein hartes und faires Urteil, wie man so schön sagt. Übrigens wurde der Begriff «links» lange vermieden, ja, er war direkt verpönt, und ist er auch sicherlich eine sinnvolle Verortung, dann heißt das noch lange nicht, dass er ein sinnvolles Adjektiv ist. Kritisch! Das ja, aber dann sollte man auch nicht immer nur über die Verhältnisse heulen, die Leser:innen hassen das, sie wenden sich ab vom Zentralorgan der Tristesse. Kritischer Journalismus soll bestätigen, dass die Verhältnisse schlecht sind (und soll natürlich in der Lage sein, sie zu analysieren und auch zu sezieren, damit die Schieflagen sichtbar werden), aber er soll auch so viel Humor mitliefern, dass man noch aushalten kann, in diesen Verhältnissen zu leben. Und zwar mitunter ganz gut. Warum auch nicht. Er soll schon mahnen, aber vielmehr noch soll er mit einem Augenzwinkern und einem Schulterklopfer versichern, dass es weitergeht. Er darf auf keinen Fall, und ich meine es ernst: auf keinen Fall moralisieren. Das war eine Lernkurve für den Augustin. Ist sie gekratzt? Das Urteil nimmt Ihnen hier niemand ab.
Permanentes Lob gibt es für die Unabhängigkeit. Es ist der Leser:innenschaft das größte Gut, und dafür ist sie zu ehren, dass es eine Pressefreiheit gibt und dass es eine Zeitung gibt, die diese Pressefreiheit tatsächlich nützt. Denn Pressefreiheit allein, auf einem Medienmarkt der schier unendlichen ökonomischen Abhängigkeiten, ist totes Recht. Die Freiheit, unabhängig von ungustiösen Geschäftsmodellen und von Sponsor:innen mit politischen Interessen arbeiten zu dürfen, ist die größte vorstellbare im Journalismus. Aber auch die selbstgemachte Freiheit, niemandem, auch keiner sozialen Bewegung, für deren Ziele man nichts als Sympathien hegt, dienen zu müssen, ist Gold wert. Robert Sommer, einer der journalistischen Gründer, hat diese Weigerung, sich umgarnen zu lassen, in einem Interview – auch dieses kurz vor der Pension – so formuliert: «Die Sozialdemokratie hat sich anfangs wirklich bemüht, den Augustin zu kaufen. Die Sozialstadträtin ist plötzlich vor unserer Tür gestanden mit einem ganzen Tross von Mitarbeiter:innen und einem Fotografen. Den haben wir gleich rausgeschmissen, Händedruckfoto wollten wir keines. Auf der anderen Seite habe ich immer drauf geachtet, dass der Augustin auch nicht der unmittelbare Ausdruck sozialer Bewegungen ist und sich ihrer Sprache bedient, die dann in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr verstanden wird. Mein Anliegen war immer eine Distanz, die es erlaubt, kleine Fehler zu benennen, nicht alles gutzuheißen.»
Der Augustin kämpft am Boulevard (und vor allem unter dem Boulevard) gegen den Boulevard. Er kämpft inhaltlich, weil die Kurznachrichten in den U-Bahn-Zeitungen die Welt schlechter machen anstatt besser, letzteres sollte aber als kollektive gesellschaftliche Aufgabe anerkannt sein. Und er kämpft um den Status, früher war der Augustin U-Bahn-Zeitung, man kaufte ihn dort, las ihn dort, blätterte ihn am Weg in den Tag hinein und am Weg aus dem Tag heraus durch und fand was Passendes oder etwas, worüber man sich echauffieren konnte, oder eine Neuigkeit, die erhellend war. Heute ist die Konkurrenz der anderen groß geworden, sie bieten Schmarrn, aber sie bieten ihn in leichter Sprache und umsonst, man schmeißt das Blatt nach dem Blättern bar jeden schlechten Gewissens weg. Und die Konkurrenz der Smartphones! Ja, die. Der Augustin zieht nach mit digitalen Versionen seiner selbst. Die Zeitung digitalisieren, das geht. Den Verkauf vom asphaltenen Boulevard auf die digitalen Highways verlegen, niemals! Die Begegnung zwischen dem kaufenden und dem verkaufenden Menschen ist der Herzschlag der Straßenzeitung, auf die zu verzichten, hieße, auf alles zu verzichten.
III. Losziehen entlang vom Lohngefälle
In fast drei Jahrzehnten haben sich die Verkaufenden sichtbar verändert. Anfangs war es eine kleine Gruppe Wiener Wohnungsloser, später kamen afrikanische Verkäufer:innen dazu, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt rechtlich versperrt bleibt, weil das im österreichischen Asylsystem blöderweise so vorgesehen ist, und noch später kamen dann Verkäufer:innen aus Osteuropa zum Augustin. Wie immer kann man sich entscheiden, ob man diese Vielheit an Herkunft und Sprachen und Wissen als Vorteil und Bereicherung begreifen will, als Herausforderung, mit der alle gemeinsam hantieren, und die eine Großstadt auch ausmacht, oder lieber als Bedrohung. Der Augustin hat sich für Ersteres entschieden, aus guten Gründen.
Migration wegen des Einkommens, egal ob sie langfristig, endgültig, temporär oder zirkulär, vorher durch- oder rollend geplant ist, hat meistens zwei Seiten: die emanzipatorische, befreiende, selbstbestimmte und grenzüberschreitende, die dem Ruf der finanziellen Unabhängigkeit folgt, mit dem vielleicht auch eine Befreiung aus zu eng gewordenen gesellschaftlichen Strukturen einhergeht; die jungen Frauen, die den patriarchalen Denk- und Handlungsmustern des Dorfes entfliehen und in der Großstadt ihr Eigenes kreieren. Die Menschen, die sich den Strukturen der Armut mit eigener Kraft und eigenem Mut entziehen und anderswo «ihr Glück versuchen», ihr Konto aufpolieren oder zum ersten Mal eines einrichten. Und die andere Seite: die mit dem Heimweh, mit der Wut auf die Verhältnisse, die eine:n zwingen, wegzugehen, von wo man womöglich gar nicht weg wollte, oder zumindest nicht jetzt, oder zumindest nicht unfreiwillig. Diese und jene und jede andere Seite dieser Migration (die mal Wirtschaftsmigration, mal Armutsmigration, mal Pendelmigration genannt wird, und die jedenfalls mehr als einen Grund hat, aber einer ihrer vielen Gründe ist, dass die Menschen Geld verdienen müssen) sind Teil der Biografien der Augustin-Verkäufer:innen.
Zum Beispiel jener aus Rumänien, der Slowakei, Nigeria, Ungarn. Und da ist schon wieder ein Einerseits/Andererseits. Denn einerseits ist die Geschichte des Lohngefälles in der Europäischen Union sehr komplex, und auch die Lebensgeschichten der Wanderarbeiter:innen sind vieldimensional, und die Wanderarbeiter:innen sind auch nicht immer schon und nicht für immer und nicht die ganze Zeit Wanderarbeiter:innen. Andererseits ist in den Biografien etwas Strukturelles verhaftet, das sich schablonenartig über die Jahrhunderte und die Weltregionen legt, eine transnationale und transhistorische Erzählung, wenn Florica (den Nachnamen soll ich nicht nennen), Verkäuferin aus Argeș, erzählt, dass sie hier auf der Straße arbeitet, damit ihre Tochter studieren gehen kann, und sie geht studieren! Sie studiert Wirtschaftswissenschaften. Das Phänomen Klassenaufstieg spielt sich im Hof der Reinprechtsdorfer Straße in Wien Margareten Tag für Tag ab, und es ist sehr beeindruckend, wie die Eltern für den Aufstieg der Kinder kämpfen, wie der Preis einer Zeitung zum «direct investment» in die Zukunft einer Generation wird, die die Verarmung ihrer Eltern in der Europäischen und durch die Europäische Union nicht mehr spüren soll.
IV. Armut ist sehr schwer auszuhalten, für die Armen genauso wie für die Reichen
In der Straßenzeitung ist der Nachruf eine allgegenwärtige Rubrik, er hat fast schon Seriencharakter. Die Armen sind öfter und länger und schwerer krank, heilen langsamer und seltener und sterben früher. Um rund zehn Jahre, wenn sie einfach nur arm sind, um rund zwanzig Jahre, wenn sie auch wohnungslos sind. Es gibt jede Menge Zahlen dazu, auch Studien, das ist lobenswert, es gibt auch Vorschläge, Politikempfehlungen, manche werden auch umgesetzt. Es gibt wenig niedrigschwellige Gesundheitsversorgung, dazu gehören nicht nur Formalitäten (Wo bekomme ich welches Gesundheitsservice ohne E-Card, ist der Eingang physisch barrierearm?), sondern auch, und vor allem, mit Respekt und ohne Beschämung behandelt zu werden. Armut ist sehr belastend, nicht nur das Armsein an sich, also die Tatsache, dass man für vieles, was gut wäre, nicht das Kapital hat. Sondern die Behandlung der Armen, die Herabwürdigung im Besonderen, der die Existenz angreifende Wunsch, der oft mitschwingt, sie wären einfach gar nicht da.
In einer österreichischen Tageszeitung, die was auf sich hält, schrieb ein Autor in seiner Kolumne über seine Verunsicherung, wenn er auf der Straße um Geld gebeten wird: Kommt das jetzt der Bettlerin oder kommt es der Bettelmafia zugute? Die Bettelmafia, die hätten wir fast schon vergessen! Ein Wort, das eingeführt wurde, um die guten von den schlechten Armen zu unterscheiden. Es unterscheidet auch die ausländischen von den inländischen Armen, die Anderen von den Unsrigen. Das ist mal Diskursüberlagerung! So sehr können die Reichen die Armen gar nicht hassen, dass sie nicht noch differenzieren könnten, ob die Armen zu ihnen gehören, also: zu ihrem Nationalstaat, oder nicht. Die Bettelmafia ist dazu da, den Schutz vor Arbeitsausbeutung zum Grund dafür zu machen, dass man den Ausgebeuteten nicht hilft. Das klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Es funktioniert ähnlich, wie wenn die Fremdenpolizei auf die Großbaustelle geht (oder auf den landwirtschaftlichen Betrieb, den Arbeitsstrich usw.) und dort auf unter- oder undokumentiert Arbeitende trifft. Dann dürfen Sie jetzt raten, wer das größere Problem kriegt, die Un- oder Unterdokumentierten oder die, die nicht dokumentieren, um sich bei Finanzamt und Sozialversicherung Ausgaben zu sparen? Den Bettelnden, denen man unterstellt (und es ist nicht gesagt, ob man damit recht hat oder nicht), dass sie kapitalistisch ausgebeutet werden, dass sie also nicht als Selbstständige direkt für sich und ihre Familie o. Ä. (auch unter den Gebenden gibt es solche, die einen progressiven Familienbegriff haben, der nicht nur die heteronormative Kleinfamilie miteinschließt) betteln, sondern Abgaben leisten müssen für Unterkunft, Vermittlung oder einfach, weil es sich eine Chefität in den Kopf gesetzt hat, diesen Bettelnden verweigert der:die gesellschaftskritische Geldinhaber:in die Gabe. Bin ja nicht blöd! Das Äquivalent ist die Erziehungsmaßnahme obdachloser Alkoholkranker: Dir geb’ ich nichts, du versäufst es ja nur! Oder, respektvoller: Ihnen gebe ich nichts, Sie versaufen es ja nur! Wer Geld zu verwalten und zu verteilen hat, ist immer auch mit einem gesellschaftlichen Auftrag unterwegs.
Armut ihrerseits hat großes Potenzial, die Nicht-Armen zu verunsichern. Wer sich nicht gern verunsichern lässt, reagiert mit Besserwisserei und Ablehnung. Armut ist in Wien in den letzten fünfzehn Jahren sehr viel sichtbarer geworden. Man wird dauernd daran erinnert, dass es ein Verteilungsproblem gibt. Und man ist verheddert in dieses Problem, mit der eigenen Lebensweise, aber ebenso mit der Tatsache, dass das eigene Leben einen Knick bekommen kann. Quasi jederzeit, mit jeder Wirtschaftskrise. Außer wenn man wirklich gut erbt. Und weil man dieses Wissen verdrängen muss, um in Ruhe leben zu können, läuft das Unsichtbarmachen, die Säuberung des öffentlichen Raums, in jeder historischen Periode Gefahr, Anhänger:innen zu finden.
V. Der öffentliche Raum und das Recht, in Ruhe gelassen zu werden
Der öffentliche Raum ist umkämpft. Das liegt daran, dass seine Privatisierung der Stadt kurzfristig, den Privaten langfristig Geld bringt, aber es liegt eben auch daran, dass im Geschäftsmodell Stadt bestimmte Vorstellungen davon grassieren, wie man auszusehen und sich zu verhalten hat, und wer im öffentlichen Raum verweilen darf, also sitzen, liegen, stehen, und wer nicht. Wer passt in eine gestaltete Stadt, wer ist dekorativer Mehrwert, und wer stört das Geschäft? Wann heißt es überhaupt sitzen und wann lungern, wessen Stehenbleiben ist nach § 78 StVO begründet und wessen Stehenbleiben unbegründet, wann gilt Alkoholkonsum als schützenswertes After-Work-Kulturgut und wann als Verhalten, das nach § 81 SPG geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen? Das in etwa lässt uns das Kampffeld abstecken.
Wer in Armut lebt, braucht mehr noch als alle anderen ein Recht auf den öffentlichen Raum. Wenn es kein Recht darauf gibt, ist er im Übrigen gar nicht öffentlich. Das wichtigste Recht ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Das schließt, bleiben wir beim Beispiel Wien, ein Alkoholverbot am Praterstern aus und auch die Vertreibung aus dem Stadtpark usw. Darum hat der Augustin jeden Freitag, der auf einen 13. fällt, zum F13 erklärt, zum Feiertag der Marginalisierten. Zum Wappentier wurde die schwarze Katze gekürt, Symboltier dafür, dass sich die Verhältnisse jederzeit radikal ändern können. In großen Umzügen oder kleinen Happenings wird der öffentliche Raum mit all seinen Möglichkeiten zelebriert, es wird einfach so getan, als gäbe es kein Problem, was ja auch dem allgemeinen Verständnis von der Begehung eines Feiertags entspricht.
Die Marginalisierten sind die Anzubetenden dieser Bewegung. Dankbar sollte ihnen eine Gesellschaft dafür sein, dass noch jemand vorlebt, dass man nicht im Radl mitrennen muss. Die Relevanz der Irrelevanten, die sinnvolle Untätigkeit der Unbrauchbaren, der Widerstand der Nutzlosen gegen Eile, bloßes Funktionieren und Auspressbarkeit, das ist das, was sich alle Welt von denen am Rand abschauen sollte – nicht ein Wochenende lang zum Ausspannen, nicht im Sinne eines romantischen Bildes von «dolce far niente», denn nichts ist an Armut und einem unfreiwilligen Ausstieg dolce.
Es gibt aber einen Stolz der Vagabundierenden, den man politisch verstehen lernen, auf den man sich langfristig im Sinne der Transformation einer Welt, die nicht kaputt werden soll, besinnen muss: Herumlungern ist keine sinnlose Tätigkeit! Müßiggang ist gesund! Was die Gesellschaft krank macht, ist die grassierende Leistungsnorm! So hat Werner Steinermann (der sich selbst als Vagabund, frei wie ein Hund, bezeichnete) es formuliert, einer der ersten Augustiner, ein «literarisierender Clochard», wie er von einem Kollegen im Nachruf genannt wurde. Nachruf, ja, weil Werner Steinermann ist natürlich auch nicht alt geworden.
Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber (Hg.): Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien.
Sonderzahl 2022
240 Seiten, 28 Euro
Präsentation: 8. Juni, 19 Uhr Literaturhaus Wien
www.literaturhaus.at