Vater mit kleinem FehlerDichter Innenteil

Es gibt noch Väter, die ihren Kindern Geschichten erzählen, ja, die gibt es. Es sind meist junge Väter, und auch ihre Geschichten sind jung und stehen noch nicht in den Büchern.

Grafik: Carla Müller

Es sind Geschichten von der Waschmaschine Erika, der vor schmutzigen Hosen graust, vom Brotschneider Fritz, der von Torten träumt, und von der Gucki, der Henne, die in der Geflügelfarm keine Eier mehr legen will.

Als die beiden Mädchen ihren Vater wieder einmal um eine Geschichte baten, fragte er: «Soll es eine lustige oder eine traurige sein?» Er fragte, weil er Zeit zum Überlegen brauchte, denn er war ein gewöhnlicher Vater und kein Dichter und schon gar nicht einer von der flinken Sorte.

«Eine traurige», sagte Vroni.

«Eine lustige», sagte Kathie, und weil es letztes Mal nach ihrem Kopf gegangen war, so kam diesmal Vroni an die Reihe, und der Vater erzählte: «Ihr wisst natürlich, wann eure Mutter Geburtstag hat, und eure Mutter und ich wissen, wann eure Geburtstage sind, kurz jeder weiß es von jedem, und das macht also vier Tage im Jahr, auf die wir uns miteinander freuen. An denselben vier Tagen haben aber auch andere Leute Geburtstag, andere Mütter, Kinder und Väter und auch Großmütter und Großväter, mit Glatzen, mit weißen und schwarzen Haaren, mit weißer oder schwarzer Haut, ihr könnt euch das ja schon selber ausmalen. Und an den anderen 361 Tagen des Jahres ist es genauso. Es gibt keinen einzigen Tag, ja keine Stunde, in der nicht eine ganze Stadt voller Leute Geburtstag hat. Es ist fast unheimlich. Am meisten freuen sich die Leute, die so wie wir sind. Sie haben ein paar Wünsche und wissen, daß einer oder zwei und, wenn es ein kleiner ist, sogar drei in Erfüllung gehen werden. Die Kinder der superreichen Leute freuen sich, denke ich, weniger.

Die haben, genau genommen, jeden Tag Geburtstag, und es fällt ihnen schon fast nichts mehr Vernünftiges ein, was sie sich wünschen könnten. Aber die Kinder der ganz armen Leute freuen sich am wenigsten. Sie wünschen sich auch nichts, weil sie genau wissen, daß es ihnen nichts nützt. Einmal aber hat sich eines von diesen ganz armen Kindern doch etwas gewünscht. Seine Mutter hat bei der Oper Zeitungen verkauft.»

«Ein Türkenkind», sagte Vroni.

«Ein Griechenkind», sagte Kathie.

Ich habe morgen Geburtstag!

«Möglich», sagte der Vater, «aber das ist eigentlich unwichtig, und es könnte auch ein Wiener Kind gewesen sein. Es hat jedenfalls aus seinem Hausübungsheft ein Doppelblatt herausgerissen und in ganz großen Buchstaben mit einem Buntstift darauf geschrieben: Ich habe morgen Geburtstag! Und drei Rufzeichen statt der Wünsche. Mit dem Zettel hat es sich an die gegenüberliegende Ecke gestellt, wo die vielen Leute auf der Rolltreppe heraufkommen und es alle haben lesen können.

Der Mutter hat es nichts gesagt, denn was eine Mutter erlaubt und was nicht, das kann man im vorhinein nicht so genau wissen.»

«Und?», fragten Vroni und Kathie ungeduldig.

Die Stimme ihres Vaters wurde ganz lustig.

«Ja, stellt euch vor! Alle Vorübergehenden sind stehen geblieben. Die einen haben ihr Geld gegeben, die anderen Zuckerln. Eine alte Frau hat ihr einen Ball gekauft und ein Bursch ein Auto zum Aufziehen.

Manche haben in die Sackerln gegriffen, die man ihnen in den Geschäften gerade angefüllt hat, und bald ist das Mäderl dagestanden mit einer gelben Jacke und darüber einem grünen Regenmantel und um das Handgelenk an einer langen Schnur einen Luftballon.»

«Fein!», jubelte Kathie befriedigt, aber Vroni trommelte wütend mit ihren kleinen Fäusten gegen die Brust des Vaters und schrie:

«Du bist ungerecht, ganz ungerecht! Ich war doch dran, und ich hab‘ gesagt, es soll eine traurige Geschichte sein.»

«Aber es ist doch eine traurige Geschichte», sagte der Vater.

«Wieso?» fragten die Kinder.

«Weil sie nicht wahr ist», antwortete der Vater. «Ich habe euch angelogen. In Wirklichkeit würde dem Mäderl so ein Gedanke gar nicht kommen, oder es würde sich nicht trauen, sich hinzustellen, oder die Mutter würde es bemerken und ihm verbieten, oder die Leute würden es für einen verlogenen Fratzen halten, oder sie würden sich gar keine Zeit nehmen, stehen zu bleiben.»

«Und warum hast du uns angelogen?» fragte Vroni ein wenig getröstet, «weil ich an der Reihe war?»

«Nein», sagte der Vater und gab jeder einen Kuss, «damit ihr denken lernt.»

Diese Kurzgeschichte erschien erstmals in Die Frau – Heft 13/78

Marie Tidl, geborene Hofmann, war Gymnasialprofessorin und Schriftstellerin. Ihre gesellschaftskritischen Erzählungen und Gedichte veröffentlichte sie in verschiedenen linken Zeitungen und Zeitschriften meist unter Pseudonymen wie z. B. Maria Wendl. Sie war Kommunistin und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv. Ein biografisches Porträt Marie Tidls, verfasst von ihrem Sohn Georg, erschien in der Augustin-Ausgabe 419.