Vaterschrauben und Schraubenmutternvorstadt

Gschäftl-Report (4. Folge)

Seit fast einem Jahrhundert werden bei Schrauben Clausen in der Neubaugasse fast ausschließlich Schrauben verkauft. Frau Susanna, nachmittags für den Verkauf zuständig, besticht durch fachliche Kompetenz und selbstbewusstes Auftreten. Von Arthur Fürnhammer (Text) und Mario Lang (Fotos).

Freundlichkeit ist eine Tugend. Doch es gibt eine Abart dieser Tugend, die nicht jedermanns Sache ist. Es ist die Freundlichkeit des Gebrauchtwagenhändlers, die Verkäuferattitüde. Also jene schmierige Variante, bei der unweigerlich der Eindruck entsteht, sie sei bewusst eingesetzt, um die Chance auf den Geschäftsabschluss zu erhöhen. Umso angenehmer ist es, wenn man Verkaufspersonal begegnet, dessen Umgang mit der Kundschaft natürlich wirkt und keine anders gearteten Absichten vermuten lässt. Doch es gibt in der Welt des Handels noch eine dritte Spielart der Freundlichkeit – die versteckte, die man auch als zugespitzte Form der echten Freundlichkeit betrachten könnte. Zur Unfreundlichkeit ist es manchmal nicht weit. Das Wohlwollen muss sich vom Kunden erst verdient werden. So wird es auch im Schraubengeschäft Clausen gehandhabt, zumindest nachmittags von 13.30 Uhr bis 18 Uhr, wenn Frau Maria Susanna ihren Dienst versieht.

«I hab keine Schraubenkäppchen! Sie kennan ma erzähln, wos woin! Des ane san Hutmuttern, des andere san Schrauben. In welcher Dimension woin S’ es? A Hutmutter is des!»

Freilich könnte man sagen: Wenn es in einer Branche von einem Geschäft in ganz Wien und Umgebung nur mehr zwei gibt, ist ein gewinnendes Auftreten des Personals ökonomisch gesehen nicht zwingend notwendig. Doch solange es Konkurrenz gibt, und die gibt es eben noch, läuft dieses Argument ins Leere. Andererseits ist es nicht so, dass der Inhaber des Geschäfts – ein Herr Karl Spath – besonders unzufrieden wäre mit seiner einzigen Angestellten. Das Gegenteil ist der Fall. Angesprochen auf Frau Susanna sprüht dieser vor Lob. Frau Susanna sei «die Beste von ganz Europa», sagt der Chef. Ein Verkaufspersonal also, das man suchen muss.

Was die fachliche Kompetenz angeht, so könnte sich ein unbedarfter Außenstehender denken: «Mein Gott, was gibt es da zu wissen, Schrauben halt!» Und bis auf ein wenig Werkzeug, das Herr Spath erst vor Kurzem ins Sortiment aufgenommen hat, gibt es bei Clausen tatsächlich nur Schrauben. Es gibt sie allerdings in zigtausend verschiedenen Größen, Varianten und Maßeinheiten.

Und so wird das Geschäftslokal zum Großteil von nackten Metallregalen eingenommen, die über und über mit hunderten kleinen Kartonschachteln belegt sind. Sich hier ohne mindestens einjährige Einschulungszeit zurechtzufinden, erscheint schwer vorstellbar. Eine solche brauchte es bei Frau Susanna auch nicht. Als sie vor zirka zehn Jahren bei Herrn Spath angestellt wurde, konnte sie schon auf einschlägige Arbeitserfahrung zurückblicken. Die beiden hatten sich 20 Jahre zuvor beim Großhändler kennengelernt und sind seither befreundet.

Zur Schraubenbranche über Umwege.

Aufgewachsen ist Frau Susanna im burgenländischen Seewinkel als eines von sieben Kindern. Das Zusammenleben mit so vielen Geschwistern hat sie geprägt. «Ohne Schimpferei ist da nichts gegangen», sagt sie. Und weiter: «Eine Schwägerin hat einmal gefragt: Wieso tat’s es immer schimpfen? Und ich: Weil das normal ist bei uns. Wenn ma nett und höflich miteinander reden, dann samma sicher bös aufeinander. Die kapiert des bis heute ned.»

Von einer Mutter, die zweimal am Tag gedroht hat, sie ins Heim zu geben, ist sie bei der erstbesten Gelegenheit in die Hauptstadt abgehauen, machte die Handelsschule, arbeitete zuerst in der Buchhaltung bei der Post und bekam schließlich nach etlichen Zwischenstationen eine Stelle beim Schraubengroßhändler Müller in Wien. Dort war man gerade mitten in der Umstellung auf die EDV, und Frau Susanna kam gerade recht. Ihr Job war es, das gesamte Sortiment und damit jeden einzelnen Schraubentyp elektronisch zu erfassen. Seither kann ihr, wenn es um die kleinen gewundenen Metallteile geht, niemand das Wasser reichen.

Ein Kunde betritt das Geschäft: Er sucht eine bestimmte Schraube und beschreibt etwas umständlich, wofür er sie braucht. Frau Susanna: «Wo woin S’ mit de hinein? In a Holz oder in a Wand, weil Sie haben g’sagt Holzschrauben. Ich kann ihna nua sagen, was i hab!» Und kurz darauf: «Sie haben gesagt zehn Millimeter. Dann brauchen S’ doch längere! Jetzt samma schon bei 20 Millimeter. Und jetzt suach ma die Muttern. Immer eins nach dem anderen. Alles auf einmal ist zu viel!»

«Die Unnötigen.»

Mangel an Kund_innen gibt es bei Schrauben Clausen grundsätzlich nicht. Das Geschäft geht nicht schlecht. Vieles, was hier verkauft wird, gibt es auch im Internet. Aber nicht einzeln. Die meisten sind Bastler, Modellbauer, Sammler, Tüftler, Besitzer von Motorrädern, Oldtimern oder Schiffen (Clausen führt die ansonsten schwer erhältlichen rostfreien Schrauben). Es gibt die netten Kund_innen, an die sich Frau Susanna erinnert, auch wenn sie nur ein paar Mal im Jahr kommen. Und es gibt die weniger Angenehmen, die «Unnötigen». «Heute war eh noch keiner von meine Unnötigen da. Der von vorhin war aner von meine Unnötigen. Wenn ihr ned da gwesen wärts, het i eam eh was anders erzöhlt.» Was sie ihren «Unnötigen» erzählt, hängt davon ab, was für einen Tag sie erwischt hat. «Es gibt Tage, da bin i aufgladn wir a V2. Und wenn’s mi dann a nu sekkieren mit Bledheiten, die was auf dera Wöd ned gibt, dann geh i überhaupt in die Luft.» Das Hauptproblem: Es gibt zwei verschiedene Maßeinheiten – Zoll und das metrische System. Metrische Schrauben sind am gebräuchlichsten. Für manche Anwendungen sind aber Zollschrauben noch immer üblich. Um festzustellen, welches Gewinde die Schraube hat, muss Frau Susanna zuerst die nötige Mutter finden. Das leuchtet nicht allen ein. Manche werden sogar ungehalten. «Dann schreit er mich an, i brauch kane Muttern. Sag i: I a ned, i verkauf erna metrische, wann S’ deppat san. Hab i scho amoi zu an gesagt. Dann nemman S’ die metrischen und gengan S’ ham.»

Vom Verkaufspersonal abgesehen fällt ein Besuch bei Schrauben Clausen auch sonst unter die Kategorie «besonderes Einkaufserlebnis». Schon die Lokalität ist einzigartig. Dem Geschäft haftet etwas Höhlenartiges an. Es ist klein und dunkel. Der Kund_innenbereich wird vom restlichen Geschäft abgetrennt durch eine rechtwinklige Budel und bietet nicht viel mehr Platz als ein mittelgroßer Lift. Wenn mehr als zwei Kund_innen das Geschäft betreten, und das kommt vor, wird es eng. Im Kontrast zum eintönig dunkelgrauen Ambiente steht die äußerliche Erscheinung Frau Susannas. Sie ist stets in bunte wallende Kleider gehüllt, und bunt ist auch alles andere an ihr: die über dem Ausschnitt baumelnden Ketten, der Ohrschmuck – ein Ohr ist zudem mit einer Schraube gepierct – und der Hut, den sie nur an heißen Sommertagen ablegt.

«Wieso ned?»

Ein neuer Kunde, ein Mitarbeiter vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen, betritt das Geschäft. Man merkt, dass er gut vorbereitet ist: «I brauchad Rampamuffen oder Verbundmuffen, fünf Stück, M6, kurz, mal zehn oder zwölf lang.» – «Kurz bestimmen Sie ned, i hab nur a Art.» Wenig später: «Dann vier Stück Niroschrauben, Senkkopf, M3, mal 30 und Senkschrauben mit Innensechskant, M6 mal 20. Werd’s wahrscheinlich ned haben.» – «Wieso soll ma die ned haben? Verzinkt oder rostfrei? San gleich teuer.» – «Dann nemma rostfrei. 15 Stück.» – «14 Euro, junger Mann.»

Nach diesem Kunden, der so jung nicht mehr ist, kommt sogleich ein neuer. Dieser – er hätte gern Schrauben vom Typ M3,5 mit 8 Millimeter Senkkopf – wird folgenden interessanten Satz sagen: «Ich nehm fünf Mutter und fünf Vater.» Er weiß also, dass es auch einen Vater geben muss, wenn es eine Mutter gibt. Früher war es nämlich durchaus gebräuchlich, ein Werkzeugteil, das in ein anderes eindringt, als Vater und das Gegenstück als Mutter zu bezeichnen. Erst in jüngerer Vergangenheit ist aus der Vaterschraube der Einfachheit halber die Schraube und aus der Mutterschraube die Mutter geworden. In der Zwischenkriegszeit, in der das Geschäft einst von einem Herrn Clausen gegründet wurde, dürfte diese Unterscheidung noch verbreiteter gewesen sein. Jedenfalls ist es diese Art von Kunde, mit der Frau Susanna gut kann: informiert, unaufgeregt und freundlich. «Vier Euro 70 bitte» sagt sie. Und der Kunde: «Ich sag danke und wünsch an schönen Tag.»

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