Verein ORPHEUS TRUSTArtistin

Unzählbares Vermächtnis

Ein kleines Büro in einer kleinen unscheinbaren Gasse in Wien: ein Computer, ein Schreibtisch, drei Sessel, ein Regal mit CD’s; hohe Fenster, viel Licht. Hier wird geforscht, hier werden Zusammenhänge hergestellt, Daten sortiert und gespeichert, es werden Publikationen und Veranstaltungen koordiniert und initiiert,- von hier aus erhält ein großes Stück unaufgearbeitete österreichische Vergangenheit die ihr gebührende Dokumentation und eine wachsende Öffentlichkeit.Hier arbeitet Frau Dr. Primavera Gruber, der Verein Orpheus Trust, der Verein zur Erforschung und Veröffentlichung vertriebener und vergessener Kunst hat hier seine Zentrale. Er widmet sich jenen von den Nazis vertriebenen KomponistInnen und InterpretInnen, die bis 1918 im Gebiet der Donaumonarchie geboren wurden oder nach 1918 im Gebiet der Ersten Republik, sowie jenen, die ganz woanders geboren wurden, hier aber eine musikalische Ausbildung absolvierten oder eine längere berufliche Tätigkeit ausübten. Es waren viele. Und sie sind heute noch buchstäblich unzählbar.

Für ihre Arbeit hat Frau Dr. Gruber eine eher atypische Forschungsmethode: die oral history und das Schneeballprinzip. Von irgendwo hat sie einen Namen und einen Aufenthaltsort, dort reist sie hin und führt ein Gespräch. Und in jedem Gespräch fragt sie nicht nur nach der persönlichen Geschichte, sondern auch nach anderen österreichischen Kollegen oder Exkollegen. Wieder fallen weitere zehn Namen, Anhaltspunkte für nächste Gespräche. Und dann schlägt sie gezielt in den entsprechenden schriftlichen Quellen nach, durchforstet Archive und Bibliotheken.

„Zum Beispiel der Georg Kreisler,“ schildert Frau Dr. Gruber. „Der hat mir von einem Kurt Loebl erzählt, mit dem er in seiner Schulzeit Violinsonaten gespielt hat und der so ein toller Geiger war. Ein paar Tage später traf ich den Archivar der Wiener Staatsoper und der erzählte mir von einem Freund, der fünfzig Jahre im Cleveland Orchestra bei den ersten Geigen gespielt hat und aus Wien stammt. Und dann habe ich nachgeforscht und herausgefunden, dass das der Kurt Loebl war, von dem Kreisler mir erzählt hat. Dann hab ich ihn angerufen und er hat mir wieder von seiner Jugendfreundschaft mit dem Dirigenten Julius Rudel erzählt. Und das alles war völlig ungeplant. Auf diese Weise habe ich so unglaublich viel Informationsmaterial gefunden. Und die oral history ist deshalb auch so wichtig, weil die Leute heute alt sind und in zehn Jahren gibt es vielleicht niemanden mehr. Aber wir kümmern uns nicht nur um die ExilantInnen, wir kümmern uns auch um die, denen die Flucht nicht gelungen ist. Und da ist es noch mal viel viel schwieriger, etwas zu finden. Da muss man systematisch vorgehen.“

Wer, wenn nicht ich

Dabei war Frau Dr. Gruber nicht immer wissenschaftlich tätig, sie war eigentlich im Kulturmanagement zuhause. So betreute sie z.B. das Klangforum Wien, ein Ensemble für zeitgenössische Musik. Als sie dann das einzige erschienene Buch zum Thema vertriebene österreichsiche Musikschaffende, („Orpheus im Exil“, Pass/Scheit/Svoboda, Wien 1995), durch Zufall in Händen hatte und MusikerInnen dazu befragte, stellte sich heraus, dass auch jene Leute, die sich sonst sehr gut auskannten, über dieses Thema dennoch nichts oder fast nichts wussten.

„Irgendwann war dann der Moment da, wo ich mir gesagt habe, da muss jetzt was passieren,“ schildert Frau Dr. Gruber die Anfänge. „Und wenn das niemand macht, dann muss ich das halt machen.“

Seit zwei Jahren macht Frau Dr. Gruber nun nichts anderes mehr, als diese Arbeit beim Orpheus Trust. Ihre anderen Projekte, die zunächst noch mitliefen, waren irgendwann zu Ende und Frau Dr. Gruber hatte längst erkannt, dass es kaum möglich war, zusätzliche Aufgaben zu bewältigen.

„Am Anfang dachte ich, das wird ein Projekt, das so nebenher laufen kann,“ erzählt Frau Dr. Gruber. „Das Buch ‚Orpheus im Exil‘ hat im Anhang ein kleines Lexikon mit etwa 600 Namen vertriebener Musikschaffender. Ich dachte – naja, vielleicht wird es noch ein paar mehr geben, die hier nicht berücksichtigt wurden, aber so in etwa stellte ich mir das Ausmaß vor. Aber inzwischen habe ich 3500 Daten in meinem Computer und ich schätze es werden noch mehr. Ich denke bei 5-6000 werden wir erst das Gefühl bekommen, dass wir eine Übersicht haben.“

Angst vor Erinnerung

Forschungsreisen führten Frau Dr. Gruber und anderer MitarbeiterInnen nach New York, England, Italien und Israel. Hundertzehn Interviews wurden bisher geführt, jedes Mal mit ein bisschen Angst davor, was durch die geweckten Erinnerungen in den GesprächspartnerInnen alles losgetreten werden könnte. Aber die Erfahrungen zeigen, dass das Interesse positiv aufgenommen wird, dass Betroffene einfach darüber erfreut sind, dass es jemanden gibt, der nach ihrer Geschichte und den Geschichten anderer Betroffener fragt.

„Also typisch dafür war zum Beispiel das,“ erzählt Frau Dr. Gruber. „Ich habe den Komponisten Haubenstock-Ramati recht gut gekannt, aber ich habe ihn nie nach seiner Geschichte befragt, weil es hieß, er spricht nicht gern darüber. Und natürlich habe ich das respektiert. Aber das hat bedeutet, dass er viel zu früh gestorben ist und wir überhaupt nichts über seine Zeit in Palästina wussten. Und niemand hier wusste etwas, obwohl er viele gute Freunde und Schüler hatte. Ich habe dann durch seinen Sohn mit Haubenstock-Ramatis Schwester telefonieren können. Sie lebt in Canada und ist eine von jenen Leuten, die durch Schindler (Schindler’s Liste!) überleben konnten. Und als ich mit ihr sprach, war es wirklich so, als ob sie nur darauf gewartet hätte, endlich zu erzählen.“

Spielmann’s Nachlass

Neben der möglichst umfassenden Dokumentation der vertriebenen Musikschaffenden geht es dem Orpheus Trust auch um die Wiederbelebung der Werke und ihre Einbindung in das kulturelle Leben. Daher gibt es auch auf der Veranstaltungsebene viel, viel zu tun. Mit einem Paket von entsprechenden Maßnahmen, wie Ausstellungen, Workshops, Symposien, Vorträge, Konzerte, sollen MusikwissenschafterInnen, InterpretInnen und VeranstalterInnen dazu angeregt werden, die ihnen meist noch unbekannten Werke ins Repertoire aufzunehmen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Von den 3500 bereits dokumentierten Personen in der Datenbank sind etwa 700 KomponistInnen gespeichert und je nach Bedarf, kann eine Auswahl, ein Bezug gefunden werden: thematisch, stilistisch oder, wie bei den Neubauer Bezirksfestwochen heuer, topographisch.

„Eigentlich sollten in diesem Büro vier noch Leute sitzen,“ so Frau Dr. Gruber. „Zwei für die Forschung und zwei für die Veranstaltungsorganisation. Und dann bräuchte es noch jemanden, der das alles koordiniert und für die Vermittlungstätigkeit zuständig ist, der die Leute beraten kann.“

Als das ganze Projekt seinen Anfang nahm hatte Frau Dr. Gruber von ihren damals noch vorhandenen anderen Einnahmen selbst die meisten Kosten getragen. Der Verein zählte zu der Zeit gerade nur fünfzig Mitglieder. Es war eine schwierige Zeit. Irgendwann gab es dann von der Nationalbank für ein Forschungsprojekt Geld. Damit gingen sich zwei Mal zwei Wochen Israel aus. Gleichzeitig war der Vereinsvorstand kurz vorm Aufgeben.

Ein größeres Projekt über Fritz Spielmann, der zur Zeit der Planung noch in New York lebte, sollte mehr Öffentlichkeit bringen. Fritz Spielmann aber starb während der Vorbereitungen und nur durch Zufall fanden Verwandte Spielmanns Unterlagen zu dem geplanten Projekt in Österreich und traten doch noch mit Frau Dr. Gruber in Kontakt. Die Erben Spielmanns überließen daraufhin dem Orpheus Trust den Nachlass, das Vorhaben mit Uraufführungen und Ausstellungen konnte durchgezogen werden. Es brachte ein Stück öffentliche Anerkennung und damit Subventionen. Wieder folgte eine schwierige Zeit, bis ein Cousin Spielmanns erfuhr, unter welchen Umständen der Orpheus Trust arbeitete. Seit März gibt es nun wieder finanzielle Unterstützung und zwar – das ist beschämend – aus Amerika. Schriftliche Zusagen über Gelder aus dem Wissenschaftsministerium stehen noch aus.

Wiederaufbau und Vergessen

„Ich habe die schreckliche Eigenschaft, dass ich wahnsinnig optimistisch bin,“ sagt Frau Dr. Gruber.

Die Beiträge der inzwischen 280 Mitglieder des Vereins und eine erstmalige Zusage von Stadtrat Marboe über eine Förderung für Personalkosten, sind ihr Perspektive genug.

„Diese Arbeit ist so spannend und bereichernd,“ begründet sie ihre Selbstausbeutung. „Ich habe mir früher auch nie vorstellen können, dass ich so gerne mit alten Leuten rede. Aber ich habe so viele tolle Menschen kennengelernt, mit einer unglaublichen Vitalität und Offenheit und einem Interesse für alles, was sich tut. Ich habe gesehen, wie man alt werden kann. Und es ist so wahnsinnig schade, dass nur so wenige zurückgekommen sind. Wenn ich diese Menschen mit der Generation vergleiche, die hier geblieben ist, also grob gesagt, mit der Tätergeneration, dann wird klar welche Mentalität diese Stadt geprägt hat und dass das bis heute nachwirkt. Diese Ablehnung und Aggression allem gegenüber, was sich einem nicht sofort erschließt.“

Nur etwa 5% der vertriebenen Musikschaffenden, die die Verfolgung überlebten, kehrten nach Österreich zurück. Vielleicht wären es mehr, hätte die Republik Österreich mehr dafür getan. Der damalige Stadtrat Dr. Viktor Matejka bemühte sich zwar bis 1947 um eine Rückkehr, hatte aber dafür nicht genug Unterstützung und war zudem auch nicht wirklich in die Musik involviert. 1947, 48 war es dann auch schon mit diesen Bemühungen vorbei, alles widmete sich dem Wiederaufbau und dem Vergessen.

Die Lüge von der Lebenslüge

„Das sind natürlich auch fünfzig Jahre Erfahrung der Betroffenen,“ so Frau Dr. Gruber. „Und da darf man sich dann nicht wundern, warum die Leute gar nicht das Bedürfnis haben zurückzukommen, ausser vielleicht für einen kurzen Besuch. Dabei war die erste Zeit im Exil für die meisten wirklich schwierig.“

Das zeigt zum Beispiel die Geschichte der berühmten „Comedian Harmonists“, dem 1927 in Berlin durch Harry Frommermann gegründeten Gesangsensemble. Drei Mitglieder des Ensembles mussten als Juden 1933 Berlin verlassen und kamen nach Wien. 1938 gelang dem mit Mitgliedern aus Österreich neuformierten Ensemble über verschiedene Tourneen die Flucht nach Amerika. Dort mussten sie in der ersten Zeit als Taxifahrer, Staubsaugervertreter, Laufbursche und Fabriksarbeiter ihr Geld verdienen. Und so wie ihnen erging es den meisten ExilantInnen. Nur der jüngeren Generation gelang es manchaml leichter, doch wieder einen spannenden und erfüllenden Berufsweg in der neuen Heimat zu finden.

„Von rechter Seite hört man ja immer wieder diesen Slogan ‚die Lüge von der Lebenslüge‘,“ weiss Frau Dr. Gruber. „Da wird behauptet, es wäre eh so viel getan worden für die Überlebenden. Aber ich weiss, dass das nicht so war. Und das, obwohl der kulturelle Einbruch ganz deutlich zu spüren war. Diese Haltung der verhindernden Großväter und ihrer braven Söhne und Töchter, das Ablehnen von allem Neuen, das hat sich bis heute fortgesetzt. Das ist die Gedankenlosigkeit und das fehlende Geschichtsbewußtsein dieses Landes.“

Frau Dr. Gruber weiss wovon sie spricht. Die enorme Anzahl von KünstlerInnen, die entweder getötet wurden oder, wenn sie es schafften, woanders die Kulturlandschaft prägten und prägen (viele waren nicht nur in der Musik, sondern gleichzeitig auch in der bildenden Kunst oder in der Literatur tätig), lassen ungefähr erahnen, was für ein spannendes Terrain Wien vor dem Krieg war und wie die gesamte kulturelle Entwicklung danach, die Musiklandschaft, die Konzertkultur heute aussehen könnte.

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