VerfolgungAllgemein

Illustration: Thomas Kriebaum

Eing'Schenkt (13. März 2024)

Daniel Blake geht aufs Arbeitsamt. Dem 50-jährigen Tischler hat seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach einem Herzinfarkt muss er um die ihm zustehenden Sozialleistungen kämpfen, in einem von Politik und Boulevardmedien aufgeheizten Klima der Verachtung von Einkommensarmen. Beim Sichten von Anträgen und Formularen lernt er eine alleinerziehende Mutter kennen, die ähnlich erniedrigende Erfahrungen mit der Bürokratie gemacht hat. Der Film I, Daniel Blake erzählt diese Geschichte aus dem mit Sozialkürzungen und Workfare devastierten England.
«Alles bringt mich auf den Gedanken, dass dein Film von gesellschaftlicher und politischer Verfolgung handelt», sagt Édouard Louis in einem Gespräch zum Filmregisseur Ken Loach. Der Schriftsteller Édouard Louis hat gerade einen Roman seiner Kindheit der 1990er- und 2000er-Jahre in Frankreich veröffentlicht. Sein Vater ist Arbeiter mit kleinem Einkommen, die ­Familie kommt gerade so durch. Louis mit seiner Geschichte und Loach mit seinem Film kommen miteinander ins Gespräch. «Wenn man das Leben meines Vaters oder das von Daniel Blake betrachtet, ist doch frappierend, in welchem Ausmaß diese Leben von Verfolgung geprägt werden, nicht nur von gesellschaftlicher Ausgrenzung, auch wenn beide Mechanismen Hand in Hand gehen können», sagt Louis.
Das ist eine interessante Beobachtung, das mit der Verfolgung. Die Betroffenen fühlen sich verfolgt, nicht im pathologischen Sinn einer Paranoia, sondern im Verhältnis zu realen gesellschaftlichen bzw. staatlichen Regulierungsinstrumenten. So haben Arbeitsloseninitia­tiven in Deutschland die Maßnahmen rund um Hartz IV als «Verfolgungsbetreuung» bezeichnet.
Im Roman Ein Mann seiner Klasse erzählt Christian Baron sein Aufwachsen vor dem Hintergrund einer sozialen Klassengesellschaft, die Armut bewusst in Kauf nimmt. Der Bub muss hungern, mit den Fingernägeln kratzt und isst er den Schimmelpilz von den Wänden. Er sieht, wie seine Mutter verfällt, mit einer Krankheit, die wahrscheinlich besser behandelt werden könnte. Er erfährt, wie Empfehlungen für das Gymnasium zerschellen, wenn niemand da ist, der hilft. «Wie entwickelt sich ein Kind, dem durch das Bildungssystem suggeriert wird, dass aus ihm eh nichts werde, während einem anderen durch seine Startposition ein Vorsprung in den Schoß fällt: durch Geld, Selbstvertrauen, die ‹richtigen› Sprachcodes, den passenden Habitus oder Beziehungen und Kontakte? Warum muss eine alleinerziehende Mutter einer mies bezahlten Lohnarbeit nachgehen und sich zugleich rund um die Uhr um kranke Angehörige kümmern? […] Was bedeutet es für ein Gemeinwesen, wenn eine Elite ihren Lebensentwurf auf Kosmopolitismus und permanente Mobilität aufbauen kann, derweil die meisten nicht vom Fleck kommen.»
Der Armutsalltag ist neben dem finanziellen Jonglieren ein Ringen um Respekt und Würde. Wer heute arm ist, gehört zu den Verworfenen. Armut ist nicht Entbehrung, sondern Demütigung. Vor allem bietet sie eines nicht mehr: den Aspekt des Aussteigens. Es ist fast irreführend, Arme als «Ausgegrenzte» zu bezeichnen. Zwar sind sie von den materiellen Möglichkeiten in der Gesellschaft gründlich ausgeschlossen, aber nicht von diesem System selbst. Vielmehr sind sie seinen Zwängen am meisten ausgeliefert. Gerade die, die liegengelassen wurden, werden nicht mehr losgelassen. Die am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen.