«Vergessene der Geschichte»Artistin

Annäherungen an den Faschismus mit Mitteln des Comics

Art Spiegelmans «Maus Geschichte eines Überlebenden» (1991) hatte einst nicht nur dem Medium Comic zum Durchbruch verholfen, sondern auch die (Un-)Darstellbarkeit des Holocaust herausgefordert, indem er für die autobiografische Geschichte seiner durch Auschwitz gegangenen Eltern Jüd_innen als Mäuse und Nationalsozialist_innen als Katzen zeichnete. 20 Jahre später zeigt eine neue Generation von Zeichner_innen, dass eine Annäherung an die Geschichte(n) des Nationalismus und Faschismus mit den Mitteln des Comics lohnt.In «Rosa Winkel» des französischen Autorentrios Michel Dufranne, Milorad Vicanovi (Maza), Christian Lerolle und in «Insel der Männer» von Luca de Santis und Sara Colaone erzählen die jeweiligen Protagonisten ihre Geschichten der Verfolgung als Homosexuelle während des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. zur Zeit des italienischen Faschismus. Während die Figuren dieser beiden Comicromane fiktional sind, setzt «Der Boxer» von Reinhard Kleist, wie der Untertitel verrät, «Die wahre Geschichte des Hertzko Haft» um. Das zugrunde liegende Buch von Alan Scott Haft stellt die Lebensgeschichte seines Vaters dar, die 2009 auf Deutsch erschienen ist.

Der Umstand, dass diese Bücher heute herauskommen das Erscheinen des französischen bzw. italienischen Originals sowie der amerikanischen Vorlage liegen entsprechend ein paar Jahre zurück , ist bezeichnend und geht jeweils auf unterschiedliche Weise ins Erzählen ein. «Eines Tages werde ich dir alles erzählen» das Versprechen Hertzko Hafts im Jahr 1963 an seinen dreizehnjährigen Sohn konnte dieser erst 40 Jahre später einlösen. Erst das Gefühl, das Leben nach dem Überleben überstanden zu haben, machte es dem aus Polen stammenden Juden möglich, seine unglaubliche Geschichte als Schauboxer der Nazis zu erzählen.

«Rosa Winkel» und «Insel der Männer» zeigen hingegen ein bis in die jüngere Gegenwart hinein verschwiegenes Kapitel europäischer Geschichte auf. Dabei geht es nicht allein um den Umgang mit Homosexuellen im Faschismus und Nationalsozialismus, sondern auch darum, wie die Beibehaltung einer Gesetzgebung (inklusive ihrer Verschärfungen), die zur Nazizeit eine systematische Verfolgung der Homosexuellen möglich gemacht hat, nach dem Krieg deren Rehabilitierung bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verhinderte. «Die Geschichte», steht auf dem Buchdeckel von «Rosa Winkel», «die in diesem Buch erzählt wird, ist die des § 175 im deutschen Strafgesetzbuch und seiner schrecklichen Folgen». Nach 1945 hatten überlebende homosexuelle Männer oder Frauen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt, gefoltert und/oder in Konzentrationslager gesteckt wurden, keinen Anspruch auf Entschädigung oder staatliche Hilfeleistungen. Erst 1994 wurde § 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, 2002 fand eine offizielle Rehabilitierung der homosexuellen NS-Opfer statt.

Der entsprechende Paragraf im österreichischen Gesetzbuch, § 129Ib, stellte nach dem «Anschluss» aufgrund seiner offenen Definition eine noch strengere Verfolgung sicher. Wenngleich § 129Ib 1971 abgeschafft wurde, folgten dem Paragrafen neue homophobe Regelungen, die erst 2002 endgültig fielen. Die Anerkennung Homosexueller als NS-Opfer durch das österreichische Fürsorgerecht ließ bis 2005 auf sich warten.

In «Rosa Winkel» kommt genau dieser Umstand zur Sprache. Nachdem Andreas Müller mehr als acht Jahre Konzentrationslager Sachsenhausen sowie Neuengamme überlebt hat, wird sein Antrag auf Entschädigung 1945 abgelehnt: «Sie werden verstehen, dass die Entschädigung für die echten Opfer vorgesehen ist und nicht für Leute, die nach dem Strafgesetzbuch Kriminelle sind.»

Die Rolle Röhms

In drei Kapiteln erzählt «Rosa Winkel» die Lebensgeschichte Andreas Müllers, der inzwischen in Paris ansässig als junger grafischer Zeichner NSDAP-Plakate für die laufende Wahlkampagne Ende 1932 entwirft. In monochromes Braun getaucht schildern «Die braunen Jahre» die Stimmung in der Berliner Schwulenszene zu Beginn der 1930er Jahre und des Hitlerregimes. Dabei ist gerade das politisch breite Spektrum bemerkenswert, das den Bogen von Kaiserreichromantikern bis Kommunisten spannt. Sogar eine Beziehung zu einem Nazi in Uniform ist tolerierbar. Auch wenn über allerlei diskutiert wird, anfangs werden die neuen Veränderungen durch das Regime lediglich in Hinblick auf eine mögliche Gefährdung der «eigenen Sache» betrachtet. Als dem jüdischen Boxer Erich Seelig der Titel aberkannt wird, ahnen nur einige, dass damit eine Grenze überschritten ist.

Die anderen unterliegen noch dem Trugschluss, dass ihnen nichts geschehen könnte, angesichts der Tatsache, dass den Nazis ein homosexueller SA-Chef angehört: Ernst Röhm. Am 30. Juni 1934, in der berüchtigten «Nacht der langen Messer», als die nationalsozialistische Führung Röhm und eine Reihe anderer Funktionäre ausschaltet, wird Andreas von einem Freund aus dem Schlaf gerissen: «Mann, wach auf … Scheiße!! / Die Republik geht in den Orkus, und du denkst nur an deinen kleinen süßen Arsch?» Wenngleich die Bezeichnung «Republik» bereits Schimäre ist, die Situation für die Homosexuellen ändert sich schlagartig, nachdem der wahre Grund für die Ermordung Röhms (als ideologischer Störenfried) von den Nazis verschleiert wurde mit der Begründung einer Verschwörung Homosexueller gegen das Regime. Ab nun werden die Homosexuellen zu Freiwild, unter Anwendung von § 175. Zu diesem Zeitpunkt gelingt es auch Andreas Müller nicht mehr, einer Verfolgung durch die Nazis zu entkommen. «Die schwarzen Jahre» deuten auf wenigen Seiten und in grau-schwarzer Koloration die Zeit in den Konzentrationslagern an. Mit «Jahre der Tränen» schließlich wird die enttäuschende Ankunft der überlebenden Homosexuellen in der Nachkriegsrepublik beschrieben.

Spröde wirkt die Interviewsituation, hier Ende der 1980er angesiedelt, auch in «Insel der Männer». Die Intention, zu veranschaulichen, dass das Sprechen über die eigene Verfolgung als Homosexueller die Überwindung zugleich mehrfacher Blockaden erfordert, gelingt dabei ästhetisch überzeugender, als subtile Annäherung der Gesprächspartner. «Ihr wisst ja nicht, wovon ihr redet!», entgegnet Antonio Angelicola auf die wohlgemeinte Begründung des jungen Interviewers Rocco, wie wichtig es sei, über dieses Thema heute zu sprechen: «Nach vierzig Jahren will man nicht immer wieder davon reden … Von den Skandalen, den Prozessen, von all dem Kummer. Die Familien mussten mit der Schande leben.» Die durchgehende Verschachtelung von Vergangenheit und Gegenwart, der Erzählung der Verfolgungsgeschichte Antonios und der Gespräche während ihrer Autoreise zu den Schauplätzen auf der Insel San Domino, entfaltet sich als Rekonstruktion einer Begegnung auf gleicher Augenhöhe.

Anders als in Deutschland und Österreich gab es in Italien «kein richtiges Gesetz», die Homosexuellen wurden als «Politische» gehandhabt, in «geheimen Gerichtsverhandlungen» verurteilt und abtransportiert. Dies war im Sinne Mussolinis, der offiziell verlautbarte, in Italien gebe es «nur echte Männer». Die italienischen Faschisten verbannten die Homosexuellen auf bewachte Inseln und rissen sie dergestalt aus ihren Lebensumständen heraus.

Der Zynismus des Schauboxens

Was Schmach und Schande überschattet, ist in «Insel der Männer» der Schmerz der Trennung, der Antonios Erinnerungen erfüllt. In «Der Boxer» wird die Trennung zu seiner großen Liebe, Leah, zum zentralen Überlebensgrund für Hertzko Haft, der 1939 als 14-Jähriger verhaftet und in ein Arbeitslager verfrachtet wurde. «Ich klammerte mich an einen einzigen Gedanken: Ich musste Leah wiedersehen.» Dieser Gedanke begleitet ihn durch die Konzentrationslager Strzelin, Auschwitz und Jaworzno. Unter dem Schutz eines KZ-Aufsehers war es möglich, dass Haft diese allerschlimmsten Erlebnisse (Zwangsarbeit, Kälte, Hunger und das Grauen der Verbrennungsöfen) überstehen konnte. Der SS-Mann bringt Haft dazu, am Schauboxen für die KZ-Offiziere teilzunehmen. Obgleich diese keineswegs seltene Einrichtung in Lagern den Boxern eine zusätzliche Ration Suppe einbrachte, gehörte diese Art des exhibitionistischen Kampfsports zugleich zu den perversesten und perfidesten Unterhaltungsprogrammen von SS-Leuten. Das Spektakel war nicht allein sadistisch-makaber, da es die ausgehungerten, geschwächten Häftlinge (darunter Boxprofis wie Unerfahrene) gegeneinander antreten ließ. Es zwang die Boxer selbst in eine unwillkürlich zynische Lage. Es ging um Leben und Tod: Überleben bedeutete, den Boxkampf überleben. Bedeutete gewissermaßen, die Brutalität des nazistischen Systems zu übernehmen.

Hertzko Haft überlebte. Nach dem Krieg boxte er weiter. Zuerst in einem Flüchtlingslager, dann auf der jüdischen Boxmeisterschaft in München, wo er gewinnt. «Ich bin noch da!!!!» Schließlich in den USA. Ein zentrales Motiv war dabei: Berühmtheit erlangen, um Leah, von der er bisher keine Spur fand, zu finden. Schließlich nimmt seine Boxkarriere ein jähes Ende. 1963, inzwischen verheiratet und Vater eines 13-jährigen Sohnes, gelingt es ihm, Leah noch einmal zu sehen: krank, gebrochen, dem Tod geweiht. Vielleicht war es dieses Wiedersehen, das ihm die Kraft für das Versprechen gab: «Eines Tages werde ich dir alles erzählen.»

In dicken streifenartigen Strichen, einzig in Schwarz-Weiß, hat Reinhard Kleist diese Lebensgeschichte des jüdischen Boxers Haft gezeichnet: Die Streifen der KZ-Häftlingskleidung ist in jedem Panel gegenwärtig. Eine großartige Comicbiografie.

Info:

Michel Dufranne / Milorad Vicanovi (Maza) / Christian Lerolle: Rosa Winkel. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Berlin: Jacoby & Stuart, 2012

Luca de Santis / Sara Colaone: Insel der Männer. Aus dem Italienischen von Resel Rebiersch. Mit einem Essay von Andreas C. Knigge. München: Verlag Schreiber&Leser, 2010

Reinhard Kleist: Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft. Nach dem Buch «Eines Tages werde ich alles erzählen» von Alan Scott Haft. Hamburg: Carlsen Verlag, 2012