Verhalten und Verhältnissetun & lassen

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Kinder, die ein Gratis-Frühstück angeboten bekommen haben, sind rund 30 Prozent häufiger in die Schule gegangen als diejenigen ohne Frühstück. Weil aber das Essen auch Zeit beanspruchte, ist die Schulleistung nicht überall gestiegen, sondern nur dort, wo die Lehrerinnen und Lehrer besonders gut ausgebildet waren. Das fanden die drei Armutsforscher_innen Abhijit Banerjee, Michael Kremer und Esther Duflo in Kenia heraus. Vor einigen Wochen bekamen sie für ihre Arbeiten den Nobelpreis. «Wir wählen zufällig eine Gruppe an Menschen aus, die am jeweiligen Entwicklungsprogramm teilnimmt, und eine andere Gruppe, die nicht daran teilnimmt», beschreibt Duflo ihren Ansatz. «Dadurch, dass beide Gruppen unter den gleichen Voraussetzungen leben, können wir vergleichen, ob unsere Hilfe etwas gebracht hat, und schneller herausfinden, worin die Schwierigkeiten bestehen.»
Die Forscherin hat mit ihrer experimentellen Methode einen großen Beitrag für erfolgreiche Projekte in der Armutsminderung geleistet. Ihr verhaltensökonomischer Ansatz hat aber auch seine Grenzen. Im Kampf um bessere Lebensbedingungen geht es immer auch darum, Volkswirtschaften zu entwickeln, gute Gesundheitsversorgung zu etablieren, funktionierende Schulsysteme aufzubauen, die soziale Schere zwischen Arm und Reich mit ihren Auswirkungen im Blick zu haben. «Mit den verhaltensorientierten Interventionen wird versucht, die von einem System verursachten Probleme mit Hilfe des Systems zu lösen», kritisiert Christian Berndt, Professor für Wirtschaftsgeografie an der Universität Zürich. «Doch wenn wir Menschen dazu bringen, in einem defizitären System besser zu funktionieren, stärken wir das System, anstatt es zu verändern. Das grundsätzliche Problem der Armut wird nicht angegangen.» In Brasilien beispielsweise richtet die Ausbreitung des Soja-Anbaus für die ländliche Bevölkerung massiven Schaden an. «Ist es da nicht besser, das dysfunktionale Soja-System, das Armut erzeugt, zu verändern», fragt Berndt, «statt die Menschen in Pawlow’scher Weise darauf zu trimmen, in ihm besser zu funktionieren?»
Duflos behavioristischer Ansatz will Verhalten verändern, nicht die Verhältnisse. Kritiker_innen meinen, das mache diese Forschung auch so ungefährlich für die Mächtigen und so beliebt bei reichen Geldgeber_innen. Die Weltbank widmete 2015 ihren ganzen Weltentwicklungsbericht den «randomisierten Kontrollversuchen» (RCT) der Verhaltensökonomie. Im Bericht kommen dann weniger soziale, politische und wirtschaftliche Bedingungen zur Sprache, die Armut verursachen, sondern die Armen selber. Armut wird so zu einem Problem des falschen Denkens. Arme Leute machen Fehler, die muss man korrigieren, um Armut zu beseitigen.
«Was mir fehlt, ist der Kontext – man weiß wenig über die Menschen und ihre Bedürfnisse», hält Berndt fest. Wenn die Verhaltensökonomie Anstöße geben möchte, dass Lehrer_innen mehr Zeit in der Schule verbringen, erhebt sie alle möglichen Daten, nur nicht, weshalb die Lehrpersonen nicht in die Schule kommen. Ist es, weil sie mehrere Jobs haben? Weil sie zu wenig verdienen? Weil der Arbeitsweg gefährlich ist? Der vormalige Nobelpreisträger von 2016, August Deaton: Es gehe nicht nur darum, herauszufinden, «was wirkt», sondern auch darum, «warum manches wirkt».
Esther Duflo hat in die Armutsforschung Versuch und Irrtum eingebracht: das Experiment, das fragt, wie die Kinder am besten in die Schule kommen. Diesen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung kann man umso mehr würdigen, als man auch um die Grenzen ihres Ansatzes weiß.