Manfred

Nie obdachlos, aber bedürftig

Grätzel Museumsquartier, Spittelberg und Neustiftgasse

Während ich das Geschirr abwasche, liest mir meine Frau den AUGUSTIN vor. Nein, das ist nur ein Schmäh für meine Kunden. Ich mache sehr wohl den Haushalt, das bin ich auch seit jeher gewohnt, denn meine Mutter ist schwer herzkrank gewesen und brauchte daher Unterstützung, aber meine Lebensgefährtin liest mir nicht die Zeitung vor.

Den AUGUSTIN kenne ich seit über zwanzig Jahren, quasi seit der Gründung, denn mein jüngerer, aber vor drei Jahren verstorbene Bruder war von Beginn an dabei. Offiziell bin ich erst später dazugestoßen, vor rund 15 Jahren. Die ebenfalls schon verstorbene Verkäuferin Annemarie hat mir gezeigt, wie man eine Straßenzeitung verkauft. Wir sind gemeinsam durchs Museumsquartier und den siebten Bezirk gezogen. Ich verkaufe noch immer in dem Grätzel Museumsquartier, Spittelberg und Neustiftgasse. Ich finde es wichtig, dass erfahrene Kolporteure und Kolporteurinnen den Neuen mit Tipps zur Seite stehen. Ich habe beispielsweise bemerkt, dass es verkaufsförderlicher ist, den AUGUSTIN nicht als Obdachlosenzeitung anzupreisen, sondern als Projekt zugunsten Bedürftiger. Vom Geschäftlichen abgesehen ist es so auch richtiger, denn ich selbst bin nie obdachlos gewesen, im Gegenteil, ich habe früher sogar Leute, die auf der Straße gewesen sind, in meiner Wohnung übernachten lassen.

Ich stamme aus ärmlichen Verhältnissen, hatte aber trotzdem eine glückliche Kindheit. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich sogar im Lainzer Tiergarten. Mein Vater hatte dort als Gärtner eine Dienstwohnung. Später wurde er Berufsfahrer, und durch ihn kam ich bereits als Schüler zu einem gut bezahlten Nebenjob: An Wochenenden stellte ich mit ihm Ständer für die Volksstimme (bis 1991 Tageszeitung, seitdem Monatsmagazin der KPÖ, Anm.) auf. Nach der Schule begann ich eine Lehre als KFZ-Mechaniker und machte dann auch noch Ausbildungen als Spengler und Lackierer. Ich hatte in der KFZ-Branche immer gute Jobs, bis mich die Scheidung aus der Bahn geworfen hat. Meine Ex-Frau konnte es gerichtlich durchsetzen, dass ich unseren Sohn nicht mehr sehen durfte. Mittlerweile ist er dreißig Jahre alt, und von meiner Seite gibt es das Angebot, uns einmal zu treffen, aber er hat es noch nicht angenommen.

Nach der Scheidung kündigte ich auch die für einen Mechaniker sehr gut bezahlte Stelle, denn mein Ex-Schwiegervater war im selben Betrieb in leitender Funktion beschäftigt. Heute bereue ich, alles hingeschmissen zu haben, aber aufgegeben habe ich mich deswegen noch nicht. Mein nächstes Ziel ist, den Führerschein neu zu machen, mir ist nämlich ein Gelegenheitsjob als Fahrer angeboten worden.

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