«Die Voest-Kinder» von Elisabeth Reichart
Elisabeth Reicharts Roman «Die Voest-Kinder» führt zeitlich zurück in die Zeit der Wiederaufbaujahre. Österreich nennt sich «frei». Dass die alliierten Besatzungsmächte ursprünglich als Befreier gekommen waren, scheint 10 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Vergessenheit geraten zu sein. In dieser Atmosphäre des Schweigens wächst die namenlose Protagonistin des Romans auf:
Ein Kind, das Fragen stellt, das sich nicht damit abfindet, wenn es die Wörter der Erwachsenen nicht versteht. Früh beginnt es zu spüren, dass unter dem fragilen Boden der Gegenwart die Falltüren einer gewalttätigen Vergangenheit lauern. Das Mädchen ist Tochter eines «Voestlers», der all seine Energie darauf verwendet, seiner Familie ein besseres Leben zu sichern. Die Mutter des Kindes rackert sich mit dem Haushalt und handarbeiterischen Nebeneinkünften ab. Während der Vater seine Kriegserlebnisse als noch jugendlicher Soldat durch harte Arbeit zu verdrängen versucht, wird die Mutter zeitweise von ihrem durch die Bombenangriffe verursachten Angsttrauma überwältigt. Immer wieder verschwindet sie tagelang spurlos aus dem Familienleben.
Das Kind bewahrt sich in dieser angstbestimmten Umgebung ein mythisches Reich aus Feen und Kobolden samt lebendiger Zwiesprache mit seinem Hund Baldo. Abrupt beendet wird dieses kindlich fantasierte Exil durch den Umzug der Familie in die neu errichtete «Voest-Siedlung». Die Fabrik dehnt sich von der reinen Arbeitsstatt zum Lebens- und Sozialmodell aus. Der Eintritt in diese Gemeinschaft gebiert für die Familie jedoch nur punktuell Erfahrungen der Solidarität oder der Zusammengehörigkeit. Die sozialen Beziehungen unter Erwachsenen wie unter Kindern sind geprägt von Misstrauen, Neid, Konkurrenz und starr festgeschriebenen Rollenbildern.
Das Kind, aus dem allmählich ein Mädchen wird, bewahrt sich trotz allem ein Sensorium für das Außenseitersein, das an den Rand gedrängte Leben. Bestärkt wird es darin nicht zuletzt durch das warmherzige und mutige Auftreten seiner Großmutter. In deren Zuspruch: «Du gehörst nur dir selbst!» ist beides ausgesprochen: das Ende der Geborgenheit ebenso wie die Gewissheit, von keiner Fabrik, keinem Vater und keiner Zwangsgemeinschaft mehr diszipliniert und verletzt werden zu können.