Verliererbeschimpfungtun & lassen

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Die Missbrauchsdebatte ist eine Debatte der Krise. Dass die Missbrauchsdiskussion gerade in Zeiten steigender Erwerbslosigkeit auftritt und es speziell bei Konjunktureinbrüchen wie Anfang der 80er Jahre, Mitte der 90er und Anfang der 2000er Jahre besonders viele Unwillige geben soll, ist politisches Kalkül. Offensichtlich wird die Missbrauchsdebatte nicht geführt, um die Treffsicherheit von Unterstützungen zu erhöhen, sondern Kürzungen bei allen Leistungsbeziehenden vorzubereiten und zu rechtfertigen. Die Fälle von Leistungsmissbrauch werden von bestimmten Politikern wiederum dazu missbraucht, die Geldmittel für das untere soziale Netz als Gesamtes zu denunzieren. Im politischen Diskurs ist mit schlechter werdender Konjunktur stets mit einer neuerlichen Missbrauchsdebatte zu rechnen. Sie dient dem politischen Management des Mangels auf dem Rücken der untersten Einkommensschichten.Eine zentrale Rolle dabei spielt der Begriff der Unterschicht. Er hat in der aktuellen Diskussion einen neuen Ankick erhalten. Zum einen ist das gut, weil es klarstellt, dass es ein Oben und Unten gibt, Macht und Ohnmacht, mehr und weniger. In den 80er und 90er Jahren wollten uns ja viele glauben machen, dass es bloß mehr Lebensstile gibt und sich alle allein dadurch unterscheiden, ob sie Volksmusik oder Underground hören, Lodenmantel oder Jackett tragen, Schweinsbraten oder bio essen. Empirisch hat das nie gestimmt, stets waren sozialer Status, Einkommen, Bildung oder berufliche Position entscheidend für Chancen und Möglichkeiten in der Gesellschaft. Somit stellt die Feststellung einer Unterschicht gesellschaftliche Realitäten richtig. Andererseits aber ist das kein unschuldiger Begriff, im Gegenteil er hat eine lange Geschichte. Gunnar Myrdal sprach 1962 zum ersten Mal von einer underclass. Er sah die gekündigten Arbeiter aussterbender Industrien in den USA, mit sinkendem Lebensstandard, an den sozialen Rand gedrängt. Underclass war bei Myrdal eine soziologische Kategorie ohne moralisierende Beiklänge, ohne rassistische Untertöne und kulturelle Zuschreibungen. In den späten 60er Jahren erfuhr der Begriff eine stigmatisierende Umdeutung. Er wurde zum einen von politischen und ökonomischen Eliten moralisch aufgeladen, um soziale Unterstützung für die untersten Einkommensschichten zu denunzieren und zu kürzen. Zum anderen griffen ihn Interessensgruppen auf, um die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings, die immer stärker auch soziale Rechte einforderte, zu delegitimieren. Am Schluss blieb vom soziologischen Begriff der Underclass die Karikatur des faulen Negers über. Sozialwissenschafter wie William Julius Wilson versuchten eine empirische und realistische Beschreibung von underclass zu retten und sprachen von ghetto poor oder new urban poor, aber die Sache war längst gelaufen. Die Geschichte der Armutsdiskurse besteht seit 100 Jahren in einem sich stets wiederholenden Prozess, bei dem die jeweilige Verlierergruppe eines grundlegenden Wandels für ihre verschlechterte soziale Lage selbst verantwortlich gemacht, beschimpft und herabgewürdigt wird. In Deutschland tauchte die Unterschicht, nicht zufällig, in Vorbereitung der Hartz-Reformen wieder auf.