Vermächtnis meiner Elternvorstadt

Achim Schneyder über einen Brief und seine geerbte Liebe zum Heurigen

Viele Jahre vor ihrem viel zu frühen Tod hat meine Mutter meinem Vater und mir einen Brief geschrieben. Abgeschickt hat sie ihn freilich nie, diesen handgeschriebenen Brief, nie auch nur ein Wort über ihn verloren, geschweige denn ihn uns je vorgelesen. Kurzum: Der Brief war ihr Geheimnis. Aber deponiert hat sie ihn, in einem Kuvert im Safe in der Wohnung meiner Eltern und direkt neben dem Kuvert meines Vaters. In einem Kuvert, von dem sie wusste – und von dem auch mein Vater und ich wussten -, dass wir es, sofern wir sie überlebten und es nicht umgekehrt geschah, dereinst öffnen würden, öffnen müssten. Oder zumindest einer von uns, falls nur einer von uns sie überleben würde. Wir haben meine Mutter beide überlebt.Und so blieb es mir eines Tages im Spätherbst vor bald schon zehn Jahren – mein Vater war gerade in einer anderen Stadt – nicht erspart, jenes Kuvert aus dem Safe zu holen, auf dem «Mein letzter Wille» stand: Ihr Testament. Und beigelegt war diesem Testament besagter Brief, gleichsam ihr allerletzter Wille, wie sich herausstellen sollte. Denn neben vielen anderen Sätzen, die wunderbar und voller Liebe waren und dennoch jeder für sich ein Stich ins Herz, stieß ich auf folgenden: «Und wenn es eines Tages so sein sollte, dass ihr mich begraben müsst, dann tut das und geht danach mit unseren Freunden zum Heurigen, esst Backhuhn und trinkt Wein und feiert und lacht.»

«Alle anderen Heurigen waren Affären»

Sie brauchte den Namen dieses Heurigen in diesem Brief nicht zu erwähnen. Meine Eltern hatten nur einen: Den, den sie liebevoll «Familienheurigen» nannten, weil es jener war, bei dem sie stets mit ihren Freunden saßen. Am liebsten mit den engsten. Und auch die nannten ihn «Familienheurigen», denn auch die hatten nur diesen einen. Er war gleichsam ihrer aller große Liebe, alle anderen Heurigen waren Affären, manche weniger flüchtig, manche mehr. Bei diesem aber saßen sie über Jahrzehnte, manche gleichsam ein Leben lang. Im Sommer lachten und schwatzen sie im unendlich schönen, naturbelassenen und in Terrassen angelegten Garten oder im herrlichen Arkadenhof. Und all die Kinder, die der Freunde und ich, wir spielten im Kies. Und wenn’s draußen zu kalt war oder zu nass, dann saßen die Erwachsenen eben drinnen, mal gegenüber der Schank am Stammtisch, mal im Nebenraum nahe dem Kamin oder unter der riesenhaften alten Weinpresse. Was wir Kinder dann taten? Da lässt mich die Erinnerung im Stich. Vermutlich aber liefen wir herum und waren den Kellnerinnen im Weg. Und irgendwie glaube ich, dass sich meine Eltern vor ewigen Zeiten hier und nirgendwo sonst auf dieser Welt die ewige Liebe schworen. Sollte ich irren, und das ist leicht möglich, mein Vater möge mir verzeihen. Aber es passt in mein Bild und daher frag‘ ich ihn nicht.

Was ich hingegen ganz sicher weiß und nie vergessen werde: Den ersten gemeinsamen Abend mit meiner heutigen Frau – es war ein sehr lauer im Frühsommer – verbrachte ich hier. Hier in diesem Garten. Bei der Fußball-Europameisterschaft in Portugal wurde gerade der erste Finalist ermittelt, mich aber zog es wider Erwarten nicht nach Hause vor den Fernseher, vielmehr hatte ich das dringende Bedürfnis, den Grundstein für (m)eine ewige Liebe zu legen. Und an exakt jenem Tisch, an dem ich damals bei Weißwein und Backhuhn offenbar nicht ganz so unerfolgreich war, hat meine Mutter, zu diesem Zeitpunkt längst unheilbar vom Krebs zerfressen, wenige Tage später meine heutige Frau kennengelernt. Gerade noch rechtzeitig. Ihren Enkel schon nicht mehr, was mich heute noch unendlich traurig macht. Doch vermutlich sitzt sie irgendwo hoch oben oder unsichtbar am Nebentisch und erhebt den G’spritzen auf ihn, wenn der Kleine in dem Kies spielt, in dem einst ich mit den Kindern der elterlichen Freunde spielte.

Diese Kinder der Freunde meiner Eltern sind meine Freunde geblieben und der «Familienheurige» auch unsere gemeinsame erste Adresse. In zweiter Generation, mit der dritten im Schlepptau. Dem schunkelnden Bustourismus hat man sich hier nach wie vor nicht ausgeliefert, die massenabgefertigten Reisegruppen bleiben demnach dankenswerterweise draußen, und das Buffet, speziell das Backhuhn, ist und bleibt das beste der Stadt. Da brauchen wir jenes der Konkurrenz gar nicht erst zu testen, es ist so, es muss so sein. Das haben uns unsere Eltern so beigebracht und schmatzend vorgelebt, das geben wir unseren Kindern so weiter. So und nicht anders, nicht zuletzt aus Gründen unverbesserlicher Sentimentalität. Wie wir ihnen auch vermitteln wollen, dass der Heurige an sich und dieser ganz im Speziellen eine wunderbare und in sich geschlossene, heile kleine Welt ist; dass der Wein – im Idealfall – aus dem eigenen Weingarten kommt und dass es mitunter viel schöner sein kann, dem Knirschen des Kieses unter den Schritten der Kellnerin zu lauschen als lauter Musik in einem verrauchten Lokal; dass beim Schnapsen am Stammtisch der Ober den Unter sticht, das Backhuhn den Chickenburger sowieso und der (Wiener) Weißwein, ob nun g’spritzt oder pur, eine Cola mit Rum allemal. Und der Rote hier ist auch von allererster Güte.

Das Geheimnis wird gelüftet

Unser «Familienheuriger» heißt, um das Geheimnis nun endlich zu lüften, «Feuerwehr Wagner» und befindet sich dort, wo im Herzen des 19. Bezirks die Grinzinger Straße und die Sandgasse ineinander fließen wie Weißwein und Sodawasser. Und diesem Heurigen, der wahrlich auch für mich so etwas ist wie eine große Liebe, eine geerbte, werde ich treu bleiben. Bis der Tod uns scheidet. Und wenn es dereinst so weit ist, möchte ich, dass meine Freunde mich hier hochleben lassen, wie wir vor bald zehn Jahren meine Mutter hier haben hochleben lassen. Bei Backhuhn und Wein und je nach Jahreszeit drinnen oder draußen. Und mit einer herum wuselnden vierten Generation, die im Kies spielt oder den Kellnerinnen im Weg steht.

Achim Schneyder, geboren 1966 in Salzburg und dennoch überzeugter Wiener, ist Redakteur in der Wien-Redaktion der «Kleinen Zeitung» und Autor zahlreicher, ausschließlich kulinarischer Bücher. Und er sitzt sehr gern beim Heurigen.

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