Eine Region verliert ihre Bahn - und wehrt sich redlich
Eine Region verliert ihre Bahn. Seit Anfang Oktober demolieren Baukräne im nördlichen Waldviertel die Gleisanlagen der Thayatalbahn – das vorläufige Ende eines jahrzehntelangen Pokers um die Wiedereröffnung der historischen Bahnlinie. Im Grenzland herrscht deshalb Alarmstimmung. Man will die Zerstörung von Volksvermögen nicht widerstandslos hinnehmen. Die Region fühlt sich verraten: Seit mehr als zehn Jahren gibt es einen bilateralen Vertrag, der den Lückenschluss der Bahnstrecke zwischen dem österreichischen Fratres und dem tschechischen Slavonice verbindlich festlegt.
Die niederösterreichische Landespolitik hat in einer mysteriösen Kehrtwendung das Bahnprojekt fallengelassen und dem Schwerverkehr die Straße ausgebaut. Seit 2008 durchschneidet eine begradigte, verbreiterte und grobschlächtig trassierte Straße die sanfte Landschaft zwischen Waidhofen und Fratres und lockt immer mehr Holztransporte an. Verkehrsexpert_innen wie Hermann Knoflacher hatten eindringlich vor einer solchen Entwicklung gewarnt: Wer Straßen ausbaue, ernte Verkehr. In diesem Fall ist es hauptsächlich schwerer Transitverkehr, der die Straßen beschädigt und kaum Geld in der Region lässt. Schon hat man dieser Landschaft erste Wunden geschlagen, hat alte Alleen abgeholzt und hässliche Schneisen ins Hügelland geschnitten – Barrieren für Mensch und Tier.
Man hat sich nicht geniert, die Umwandlung des ökologisch kostbaren Landstrichs in ein Transitland für den Schwerverkehr mit einem kulturellen Motiv zu bemänteln: Für die Besucher_innen der grenzüberschreitenden Landesausstellung 2009 musste eine Schnellstraße her! Die Ausstellung dauerte nur wenige Monaten.
Wo waren die Vertreter_innen der Lokalpolitik, als dieser Sündenfall geschah? Weshalb haben sie sich geduckt, statt für die Anliegen der Bevölkerung einzutreten? Dieselben Bürgermeister, die sich anfangs einmütig für die Thayatalbahn ausgesprochen haben, betreiben heute vehement die Demolierung der Gleisanlagen und die Errichtung eines Radwegs ausgerechnet auf der Bahntrasse! Gesinnungsloses Parteisoldatentum, wie viele Enttäuschte meinen. Wie gewöhnlich fielen die Entscheidungen an höherer Stelle und über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Baufirmen von auswärts haben profitiert und sind weitergezogen. Landespolitiker haben sich als Straßen-Pioniere produziert, als hätten sie den Wilden die Zivilisation gebracht.
Weil es kaum Ortsumfahrungen gibt, wälzen sich die Trucks rund um die Uhr durch die Dörfer und lassen die Einheimischen in die Häuser flüchten. Treffen Schulbusse in den engen Kurven auf Sattelschlepper, sind oft minutenlange Ausweichmanöver nötig. Die Renaissancestadt Slavonice ächzt unter der LKW-Lawine und sieht ihr Weltkulturerbe gefährdet.
Indes war hierzulande Beschwichtigung angesagt. Die Lokalpolitik versprach Tonnage-Beschränkungen, Fahrverbotszeiten, die Verbannung von Ferntransportern sowie strenge Kontrollen. Nichts davon wurde dauerhaft umgesetzt. Längst fährt jeder Frächter – ob aus Horn, Hamburg oder Saloniki – zu jeder Uhrzeit und mit welcher Tonnage auch immer – völlig unbehelligt!
Der Titel der Farce: «Von Fratres nach Wien»
Gleichzeitig hat man in der Region einen beispiellosen Mobilitäts-Notstand angezettelt: 2010 wurde der Zugsverkehr zwischen Schwarzenau und Waidhofen eingestellt, wohl um letzte Hoffnungen auf die Thayatalbahn abzuwürgen. Doch das bedeutsam angekündigte neue Busnetz schuf keine Abhilfe, im Gegenteil! Entlegene Destinationen werden immer seltener von Bussen angefahren. Wer an Wochenenden oder zu Ferienzeiten von Fratres nach Wien gelangen will, muss einen Fußmarsch nach Slavonice antreten, um von dort über Telc, Kostelec und Brünn nach dreimaligem Umsteigen und siebenstündiger Fahrzeit in Wien anzukommen. Deutlich mühsamer gestaltet sich eine Fahrt nach Westösterreich. Wer etwa in Salzburg zu tun hat, wird von der Fahrplanauskunft über Dacice und Jindrichuv Hradec nach Budweis dirigiert und von dort über Wullowitz nach Linz, wo es bessere Chancen auf einen Anschluss gibt. Will jemand aus Fratres einen Vormittagstermin im nahen Heidenreichstein wahrnehmen, schlägt ihm das Internet eine Abreise schon am Vortag mit Übernachtung in Waldkirchen vor (wo es keinen Beherbergungsbetrieb mehr gibt). Spätestens hier wird das Trauerspiel zur Farce. – Mitteleuropa im 21. Jahrhundert!
Hatten nicht unlängst die Bürgermeister auf Pressefotos stolz als Schöpfer eines Anruf-Sammeltaxis posiert? Wer damals hoffte, man könnte ohne eigenes Auto im Waldviertel überleben, wurde abermals enttäuscht. Mangelhafte Koordination der Umstiegszeiten und unklare Buchungsmodalitäten über externe Call-Centers ließen die Nutzer_innen bald resignieren. Die Leih-Arbeitskräfte an den Telefonen taten sich schwer mit den Ortsnamen, die sie noch nie gehört hatten. Seit 2013 weigern sich einige Gemeinden unter Hinweis auf «nicht vorhandenen Bedarf», das ungeliebte Sammeltaxi weiterhin zu subventionieren. Einmal mehr trug der Rechenstift den Sieg über den kommunalen Service-Gedanken davon.
Dass Versprechen gebrochen werden, ist in der Politik nichts Ungewöhnliches. Was diesen Fall so besonders macht, ist die Unverfrorenheit, mit der die Interessen der Straßenbau- und Frächter-Lobbies auf Kosten der Bevölkerung bedient werden. Für Politiker_innen dieses Typs gibt es eine zutreffende Bezeichnung. Noch scheut man sich, das hässliche Wort in den Mund zu nehmen, denn die Indizien dieses unappetitlichen Interessensgeflechts müssen erst zu einem aufschlussreichen Mosaik zusammengefügt werden. Es wäre die Aufgabe unabhängiger Medien, durch kritische Recherche und unerschrockene Berichterstattung zu dieser Evidenz beizutragen. Wann werden die Entscheidungsprozesse, die zum Verlust der Thayatalbahn geführt haben, endlich durchleuchtet?
Es ist keineswegs die Bahn allein, die man der Region weggenommen hat. Seit Jahren schon sehen sich die Waldviertler mit einer systematischen Demontage ihrer Infrastruktur konfrontiert. Überall aufgelassene Schulen und Postämter, geschlossene Ordinationen, abgewanderte Wirt_innen und Einzelhändler_innen, die infolge unzureichender Rahmenbedingungen kapitulieren mussten. Dutzende leer stehende Geschäfte im Zentrum der Hauptstadt Waidhofen zeugen vom Niedergang eines Bezirks, der von der Politik offenbar aufgegeben und den Technokrat_innen überlassen wurde.
Tschechien vertraute auf Prölls Handschlagqualität
Wo fast jeder Haushalt zwei oder drei Autos benötigt, weil der öffentliche Verkehr versagt, dort kommt auch die Natur unter die Räder. Man hat es sich angewöhnt, achselzuckend von Sachzwängen zu sprechen, als wären diese nicht großteils hausgemacht. Wie konnte es zu solchen Fehlentwicklungen kommen? Steckt hinter diesen Verwerfungen nicht mehr als nur dümmliche Kurzsichtigkeit, vielleicht eine Krise unserer kulturellen Identität? Mit gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen wie dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs oder dem Bauernsterben im geöffneten Agrarmarkt gehen immer auch Orientierungsverluste einher, und zwar auf allen Seiten. Deshalb braucht es ein neues Selbstverständnis, eine regionale Identität, die sich nicht mehr national definiert. Das Verschwinden der Grenze böte eine Jahrhundertchance, zerrissene Fäden neu zu knüpfen. Strukturpolitik im Grenzraum betrifft immer auch die Nachbarn und wird von diesen symbolisch interpretiert. Die Thayatalbahn ist ein wichtiger Identität stiftender Verbindungsstrang, der die Überwindung der Trennung zum Ausdruck bringen sollte. Für eine historisch belastete Nachbarschaft, die noch an alten Vorurteilen laboriert, wäre ein Vertragsbruch von Seiten Österreichs ein verheerender Rückschlag. Immerhin haben die Tschechen im Vertrauen auf unsere Handschlagqualität ihre Bahnhöfe, Strecken und Zugsgarnituren vorbildlich erneuert. Nun zeigt ihnen St. Pölten die kalte Schulter. Die immanente Botschaft lautet: Wir glauben nicht mehr an ein gemeinsames Entwicklungspotenzial, das über das Treten von Radpedalen hinausgeht!
So ist die Verkehrspolitik für das Waldviertel zu einem peinlichen Lehrstück der Natur- und Menschenverachtung geworden. Waidhofen gehört zu den Bezirken mit der größten Abwanderung, der höchsten Arbeitslosenquote, den geringsten Einkommen und der stärksten Motorisierung (Fahrzeug pro Kopf). – Was tun, wenn Grundbedürfnisse einer Bevölkerung fortgesetzt negiert werden? Sollen sich die Menschen an der Peripherie damit abfinden, dass sie nicht zählen, weil sie nicht zahlreich genug sind? Sie dürfen noch wählen, gewiss, aber welche Wahl haben sie eigentlich? Sind sie überhaupt noch Bürger_innen, die irgendjemand ernst nimmt?
Im Namen des Bauernrebellen
Für solche Momente scheinbarer Ausweglosigkeit hält die Geschichte einen famosen Trost bereit: Ein Recht auf Notwehr gibt es allemal – sogar im Waldviertel! Der aus Dobersberg stammende Bauernrebell Andreas Schremser hat im 16. Jahrhundert seinen Landsleuten gezeigt, dass man sich gegen die Obrigkeit wehren kann, wenn die Grenzen des Zumutbaren überschritten sind.
Auf die Demolierung der Bahntrasse reagieren aufgebrachte Bürger_innen nun mit wöchentlichen Sitzblockaden und Demonstrationen in Fratres und an anderen strategischen Punkten. Das verzögert die Abbrucharbeiten am Bahndamm und zwingt die Sattelschlepper, an der Grenze kehrt zu machen. Eine Umkehr sei auch den politischen Verantwortungsträger_innen dringend angeraten, bevor sie Steuergeld für einen Radweg verschwenden, der einer neuen Thayatalbahn früher oder später im Weg stehen würde. Ihre Bauherren werden bald unter massiven Erklärungsdruck geraten. Denn ohne Bahnlinie – darin sind sich Verkehrsexpert_innen und Ökonom_innen einig – werden die Entwicklungschancen der Region weiterhin brachliegen und die Missstände unerträglich werden.
Grund genug für einen sofortigen Bahnvernichtungs-Stopp mit anschließender Nachdenkpause. Eine solche hatten, wie man sich erinnert, auch die Zerstörer der Hainburger Au gebraucht, um zur Vernunft zu kommen.
Der Autor besitzt in Fratres einen Gutshof, in dem er das kulturhistorische «Museum Humanum» einrichtete, initiierte die grenzüberschreitende Plattform «Kulturbrücke Fratres» und ist Aktivist der Bürger_inneninitiative pro Thayatalbahn
Infos über die nächsten Widerstandsaktivitäten: www.thayatalbahn.at