Verraten und verkauftDichter Innenteil

Meine Geschichte ist nicht sehr schön, aber ich finde, dass die erzählt werden muss. Es ist die Geschichte von meinen Kindern und mir. Wie erzählt von Heimaufenthalten, Gefängnis und Tod. Ich habe ein (bisher unveröffentlichtes) Buch geschrieben über meine Erfahrungen und das Schicksal meiner drei Kinder, die mir vom Jugendamt – vorgeblich zu deren Wohl – weggenommen wurden.

In den 70er und 80er Jahren wurden an der Kinderklinik im Wiener AKH an völlig gesunden Kleinstkindern grausame medizinische Experimente durchgeführt, die später unter der Bezeichnung «Zweymüller-Skandal» traurige Berühmtheit erlangten. Wohlwissend, was den Babys dort blühte, hat das Jugendamt diese Klinik mit Kindern aus sozial schwachen Schichten regelrecht «beliefert». Auch meine 1977 geborene Tochter Astrid sollte damals als «Versuchskaninchen» herangezogen werden. Weil ich mit ihr flüchtete, um sie zu schützen, kam ich schließlich in U-Haft.

 

Zeichnung: Antonia Kofler

28. November 1978

Am Abend zirka um 20 Uhr bin ich wieder im Lokal, in dem ich arbeite. Um etwa 21.30 Uhr kommt der Geschäftsführer zu mir und sagt:«Bitte die Herren …». Ich sehe einen älteren und zwei jüngere Männer, die sich als Kriminalbeamte erweisen. Der Ältere sagt:«Ziehen Sie Ihre Straßenkleidung an und kommen sie mit – ich habe hier einen Haftbefehl für Sie!» Dabei hält er mir einen Zettel vor die Nase. Ich muss mich also umziehen und mitgehen. Wir steigen in ein Auto der Marke VW Käfer und fahren in den 9. Bezirk. […]

Das Auto hält im Hof der Rossauer-Kaserne. Dieses Gefängnis wird von den Wienern liebevoll «Liesl» genannt, weil es sich an der Elisabeth-Promenade befindet.

Meine Personalien werden aufgenommen und man nimmt mir das Feuerzeug weg. Dann werde ich in eine Einzelzelle gebracht. An einer Wand dieses Raumes ist mittels einer Kettenhalterung eine Art Bett angebracht. Im Schein des «Nachtlichts» (ein quarzartiger Beleuchtungskörper an der Decke) lese ich die Inschriften früherer Gefangener an den Wänden – zornige, resignierte, spöttische, verzweifelte Anmerkungen sind da vorhanden neben einer Reihe parallel verlaufender Striche – was mögen die Striche wohl bedeuten, überlege ich, Tage, Wochen, Jahre? Ich weiß es nicht. Irgendwann falle ich in einen unruhigen Schlaf.

29. November 1978

6 Uhr Früh. Ein durchdringend schriller Klingelton weckt mich, gleichzeitig schaltet sich die grelle Neonbeleuchtung an der Zimmerdecke ein. Die Tür meiner Zelle wird aufgerissen. Eine sichtlich gestresste Justizwachebeamtin betritt den Raum. «Jetzt zeige ich Ihnen, wie man das Bett an die Wand sperrt.» Als ob mich das interessieren würde. «So», meint sie zufrieden, als sie die Pritsche mit den daran befestigten Ketten hochklappt und in der Wandhalterung verankert hat «Tagsüber im Bett herumliegen gibt es hier nämlich nicht. Bei uns muss man wirklich sitzen!» Von mir aus, denke ich. Nachdem sie feststellt, dass mich ihre Worte nicht im Geringsten beeindrucken, verlässt sie den Raum. Bald darauf kommt das sogenannte Frühstück – ein Becher Kaffee und ein Kanten trockenes Brot, na ja. Eine Weile später holt mich ein Beamter ab. Es werden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen. Dann komme ich wieder zurück in meine Zelle. Am späteren Vormittag erscheint ein Beamter und sagt: «Nehmen Sie alles mit, was Ihnen gehört und kommen Sie hinunter in die Aufnahmekanzlei!» Die Zellentür lässt er offen. Mein Herz tut einen freudigen Sprung. Darf ich am Ende nach Hause? Rasch nehme ich meine Habseligkeiten und mache mich auf den Weg. In der Aufnahmekanzlei angekommen, verfliegt meine Euphorie sehr rasch. Ungefähr fünfzig Strafgefangene stehen da herum sowie ein paar Wachleute, von denen einer an seine Kollegen die Frage richtet: «Stellst du den Transport fürs Einser zusammen?» (Damit ist das Landesgericht 1. gemeint.) Ich hoffe, dass ich nicht dabei bin. Ein paar Namen werden aufgerufen, schließlich auch meiner. Zusammen mit einigen sichtlich «schweren» Burschen muss ich im Transportwagen Platz nehmen. Der Wagen rollt in den Hof des Landesgerichts 1. Die Türen werden geöffnet, und ich muss einem Beamten in die sogenannte «Reservatenkammer» folgen, wo man mir alle Gegenstände, die man mir in der Rossauer-Kaserne zurückgegeben hatte, wieder abnimmt. Dann werde ich wieder in eine Einzelzelle gebracht.

30. November 1978

Heute hat man mich in eine andere Zelle verlegt. Diese teile ich mit einer zweiten Untersuchungsgefangenen. Sie ist ebenfalls schwanger und heißt Martha. Sie erzählt mir, dass sie in einer Wohnung als Prostituierte gearbeitet hat. Einen ihrer Stammkunden, einen Trafikanten, soll sie um einen größeren Geldbetrag erleichtert haben, indem sie ihm die «große Liebe« vorgaukelte. Nun sitzt sie wegen Verdachts auf Heiratsschwindel. Sie hat ein Foto ihres Zuhälters bei sich, das sie mir ständig unter die Nase hält. «Schau», sagt sie, «ist er nicht süß! Sieh nur, da hat er ein Grübchen im Kinn.» Ich kann diesem vergammelten Typen nichts abgewinnen, aber Martha wird nicht müde, mich auf vermeintliche Schönheitsmerkmale ihres Parasiten hinzuweisen. (Mittlerweile weiß ich, wo der Typ eine Warze und wo er eine Falte hat. Das nervt.) Um dieser Dauerberieselung zu entgehen, suche ich in der Zelle verzweifelt nach Lesestoff. Ich finde eine Bibel. Die ist allerdings so abgefasst, dass wahrscheinlich nur Theologiestudenten etwas damit anfangen können. Dann finde ich zu meinem Glück noch ein zweites Buch, es ist «Der Einsam» von Anzengruber. Ich vergrabe mich darin und lese es von vorne bis hinten und wieder zurück, in der Hoffnung, dadurch einem Gespräch mit Martha ausweichen zu können. Leider zerstört Martha mir diese Illusion nach einer Weile: «Geh, hör endlich auf zu lesen, unterhalten wir uns lieber!» Aus dem Augenwinkel linse ich in ihre Richtung – bingo, sie hat schon wieder ihr «Parasitenfoto» gezückt. Mir bleibt wohl nichts erspart …

3. Dezember 1978

Weil meine Zellengenossin und ich schwanger sind, sollen wir einem Arzt vorgestellt werden. Wir kommen – nebst weiblichen Gefangenen aus anderen Zellen – in einen Warteraum. Dort gibt es eine Bassena und verschiedene Pulte, hinter denen zwei Sanitäter und eine dicke Klosterfrau stehen. Vor mir wartet eine sehr große Insassin. Sie geht zu einem Ständer, auf dem verschiedene Kirchenzeitungen angeordnet sind und nimmt sich einige heraus. Um auch an etwas Lesestoff zu kommen, suche ich mir ebenfalls einige dieser Zeitschriften aus. Dann warten wir wieder. Die Lange vor mir kommt an die Reihe, und ich höre, wie sie zu einem der Sanitäter sagt: «Herr Doktor, ich glaub, i hob die Skabies.» Erschrocken lasse ich meine Zeitschriften, in denen sie zuerst geblättert hat, fallen und wasche mir an der Bassena gründlich die Hände. (Skabies ist eine sehr unangenehme, extrem ansteckende Hautkrankheit, die häufig dort auftritt, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben und gleichzeitig die Hygiene nicht die beste ist.) Der Sanitäter fragt mich, ob ich Beschwerden habe, und als ich verneine, ist damit die «Untersuchung» auch schon erledigt.

6. Dezember 1978

Ein Justizwachebeamter holt mich aus unserer Zelle ab, um mich über endlos scheinende Gänge und Treppen dem sogenannten Journalrichter vorzuführen. Dieser teilt mir mit, dass das Gegengutachten des Preyerschen Kinderspitals eingelangt sei und dass darin bestätigt würde, dass mein Kind nie im Leben auch nur die Spur von Rachitis gehabt hat. Der Haftgrund entfalle somit. Wie im Traum vernehme ich die Worte des Richters: «Sie werden heute oder morgen enthaftet.»

Als ich – wieder zurück in der Zelle – Martha davon berichte, ist sie sehr geknickt, was ich verstehen kann, denn es ist sicher nicht angenehm zu erleben, wie eine andere in Freiheit kommt, während man selber weiterschmoren muss. Ich versuche, sie zu trösten, während ich gespannt darauf warte, dass sich endlich die Tür öffnet und ich nach Hause gehen kann. Das Mittagessen kommt. Stunde um Stunde vergeht. Dann das Abendessen. Heute wird es wohl nichts mehr mit dem Heimgehen.

7. Dezember 1978

8.30 Uhr, Spaziergang im Hof. Martha erzählt einer Frau aus einer anderen Zelle, sie heißt Birgit, dass ich heute entlassen werde. «Das kann ich mir nicht vorstellen», meint sie halb ungläubig, halb neidisch. 12 Uhr, wieder Mittagessen. Kein Anzeichen für meine Entlassung ist in Sicht. Martha frohlockt: «Ich glaube nicht, dass du heimgehen kannst. Weißt du, das sagen die nur, damit du dich freust und es dir dann umso schlechter geht, wenn du merkst, dass es nichts wird.» Ihre Worte erschrecken mich zutiefst – sollte sie etwa rechthaben? Aber der Richter hat es mir doch versprochen! Eine Wachebeamtin öffnet die Zellentür und sagt: «Wer möchte kann die Anstaltskirche besuchen.» Ich gehe mit. Eine Bankreihe vor mir sitzt Birgit. Mit schadenfrohem Grinsen wendet sie sich zu mir um: «Bist ja noch immer da. Ich hab’s ja gewusst, so schnell geht man bei uns nicht heim.» Ich höre nicht auf sie, sondern schaue nur auf das große Kruzifix an der Seitenwand der Kirche. Bitte. Lieber Gott, bitte …!

Wieder zurück in der Zelle. Meine Stimmung ist auf null gesunken. Die Tür wird aufgeschlossen. Ein Wachebeamter sagt: «Nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit!» Wieder folge ich ihm durch die scheinbar endlosen Gänge des Gebäudes. Ich bekomme die mir bei der Einlieferung abgenommenen, Gegenstände wieder ausgefolgt, auch ein sogenannter Passierschein wird mir in die Hand gedrückt. «Da geht’s raus!», sagt der Beamte und deutet in Richtung Ausgang. Gleich darauf stehe ich vor dem Gefängnis auf der Straße. Ich bin frei!

[…]

Ich mache mich auf den Heimweg.

Ich freue mich schon so auf meine Tochter Asti!

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