«Verschwunden»vorstadt

Nataliia Kyriukhina (Foto: © Mario Lang)

Lokalmatadorin Nr. 524: Nataliia Kyriukhina

Nataliia Kyriukhina versteht ihre ukrainischen Landsfrauen sehr gut.
Auch sie hat es schwer.

 

Die Ungewissheit, wie es ihren Verwandten in der Ukraine geht, besonders ihren Männern an der Front. All die unverständlichen Formulare der hiesigen Bürokratie, die keine Ausnahmen duldet. Die Frage, wo sie künftig wohnen werden. Die Frage, wann sie endlich regulär arbeiten dürfen. Die Frage, ob sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Die Tränen der Kinder. Die Tränen, wenn ihre Kinder abends endlich eingeschlafen sind.
Sorge. Nataliia Kyriukhina weiß ziemlich ­genau, was ihre Klientinnen in Wien bedrückt. Sie spricht nicht nur ihre Muttersprache. Sie lebt selbst seit mehr als einem Jahr getrennt von ­ihrem Mann, der jeden Tag aufs Neue auch um sein eigenes Leben kämpft. Ihre Tochter 15, ihr Sohn neun – Kinder des Krieges.
Immerhin hat die Psychologin, die in der zentralukrainischen Millionenstadt Dnipro ­studierte und arbeitete, eine Halbtagsanstellung. Und zugleich die volle Verantwortung für die Frauen, die sie betreut.
Seit bald einem Jahr nützt der Hilfsverein T.I.W. ihre Expertise. Kernaufgabe dieses Vereins für «Training, Integration und Weiterbildung» ist es, Jugendliche nach einem Schulabbruch behutsam an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Doch als T.I.W.-Gründer Andreas Pollak (Lokalmatador Nr. 187) Ende Februar 2022 das Unglück der Ukraine realisiert, will er möglichst schnell helfen. Und hilft schnell.
Über eine ukrainische Bekannte und ­deren Telegram-Gruppe lernt Pollak Ende März ­Nataliia Kyriukhina kennen. Die beiden sind sich sofort einig, wollen im T.I.W.-Gesundheitszentrum in der Alsgasse eine auf die Bedürfnisse von geflüchteten ukrainischen Frauen zugeschnit­tene Praxis eröffnen. Doch es gibt Behörden, die haben es selbst in Notsituationen nicht so eilig. Die Psychologin erzählt: «Ende Mai durfte ich endlich meine erste Klientin begrüßen.»
An der Wand ihres Büros hängen Kinderzeichnungen. Auffallend: Fast alle Kinder ­haben eine blau-gelbe Flagge gemalt. Inzwischen hat die Ukrainerin 65 Frauen betreut, zwei Drittel davon in mehreren Sitzungen. Über ihre Arbeit sagt sie: «Wichtig ist das Zuhören. Denn auch wenn meine Klientinnen in der Ukraine mit beiden Beinen im Leben standen, hier in Wien können sie sich bei niemandem ausweinen. Einige sind am Ende einer Sitzung verwundert, was sie sich bisher nicht einmal selbst ­zugestanden hatten.» Die Psychologin spricht in diesem ­Zusammenhang von «vor sich selbst versteckten Gefühlen».
Trauer. Nataliia Kyriukhina hat auch selbst ­einiges zu verarbeiten. Die Angst um ihren Mann, die Sorge um ihre Zukunft sind das eine. Traurig stimmt sie zudem: «Ich habe vor dem Krieg in erster Linie Menschen aus Russland online betreut. Ich hatte auch viele Kolleg:innen und Bekannte in Russland.» Es verschlägt ihr kurz die Stimme, dann sagt sie: «Zwei von vielleicht hundert haben sich nach Kriegsbeginn erkundigt, wie es mir geht. Die anderen sind verschwunden.»
Dabei hätte man einiges erfahren können: «Als wir am Morgen des 24. Februar 2022 die erste Rakete an unserem Fenster vorbeifliegen sahen, packten wir unsere Sachen und fuhren los. Als dann auch in der ­Westukraine ­jeden Tag zwei, drei Mal die Sirenen heulten, ­sagte ich zu meinem Mann, dass mich das ­umbringt.» Schweren Herzens hat sich die Familie Mitte März 2022 getrennt: Die Frau und die Kinder flüchteten zu einer Freundin nach Wien, der Mann wurde von der Armee eingezogen.
Hoffnung. Ihre neuen Klientinnen stammen aus allen Landesteilen der Ukraine, hatten durchwegs schöne Berufe in ihrer Heimat. Wien gewährt ihnen immerhin «Ruhe und ­Sicherheit». Die Psychologin, die jetzt im zweiten Bezirk wohnt und dort ihre Kinder in der Schule weiß, fügt an dieser Stelle hinzu: «Die Ästhetik dieser Stadt inspiriert mich, nährt meine Seele. Der Andreas und all die anderen lieben Menschen rund um uns haben viel Gutes für uns getan.»
Eine Tür schließt sich von einem Tag auf den anderen, andere Türen gehen auf. Heißt es. Ihre Kontakte in Russland hat Nataliia ­Kyriukhina wohl für immer verloren. Doch Russland ist klein im Vergleich zum Rest der Welt. Sie ­lächelt kurz über diesen Gedanken, doch er ist nicht falsch: Menschen aus der Ukraine leben heute auf allen fünf Kontinenten. Es wird noch lange dauern, bis all ihre Traumata verarbeitet sind. Politik, Bürokratie, auch Berufsgruppen-Lobbys hierorts wären daher gut beraten, endlich über den eigenen Schatten zu springen. Sonst sind derart kluge Köpfe wie diese Psychologin so schnell wieder weg, wie sie gekommen sind.