Versunkenes Nubientun & lassen

Vom Ufer des Nil in den dritten Bezirk

Statt Pizza Margherita oder Vesuvio isst man hier Nabra oder Aikadolli. «Nabra ist ein nubischer Mädchenname», erklärt Hamdi Soliman, der Besitzer der Pizzeria Nubiano. Aikadolli bedeutet «Ich liebe dich». Markus Schauta hat das Restaurant besucht und viel über Nubien erfahren.

Die Pizzeria Nubiano mit ihren großen Fenstern ist ein helles Lokal im dritten Wiener Gemeindebezirk. An den Tischen aus dunklem Holz sitzt eine Handvoll Gäste. Es duftet nach frischer Pizza und Espresso. Hamdi Soliman hat die Pizzeria vor einem halben Jahr übernommen. Der 57-Jährige hat nubische Wurzeln. Über seine Herkunft und Kultur spricht er gerne. Doch das war nicht immer so.

Wo liegt Nubien eigentlich? Nubien, das ist ein Landstrich, der sich vom südlichen Ägypten bis weit in den Sudan hinein erstreckt. In der Antike war dieses Land im Königreich von Kusch geeint. Ein reiches Land, das über bedeutende Goldvorkommen verfügte. Heute sind große Teile alten nubischen Landes im Nil versunken und mit ihm zahlreiche nubische Altertümer. Wie kam es? Noch unter britischer Herrschaft wurde bereits 1902 ein erster Staudamm südlich von Aswan erbaut. Er sollte die Niedrig- und Hochwasserphasen des Nil ausgleichen und eine ganzjährige Bewässerung der Felder im Niltal ermöglichen. 1912 und noch einmal 1933 wurde der Damm erhöht. Bereits damals waren nubische Dörfer vom steigenden Wasserspiegel betroffen. Zum großen Exodus kam es in den 60ern. Die damalige ägyptische Regierung unter Präsident Gamal Abdel Nasser beschloss den Bau des Aswan-Hochdammes, einen knapp vier Kilometer langen und 111 Meter hohen Staudamm. Die aufgestauten Wassermassen bilden einen gigantischen Stausee, der sich 500 Kilometer lang bis in den Sudan erstreckt und an seiner breitesten Stelle 35 Kilometer misst.

Das Land, das der See fraß, war nubisches Siedlungsgebiet. 1964 ließ die Regierung etwa 50.000 Nubier_innen umsiedeln. Ihre Dörfer, Felder, Palmen, Friedhöfe und heiligen Orte, kurz: ein großer Teil des traditionellen nubischen Siedlungsgebietes, versank im Wasser des Nasser-Stausees. Die umgesiedelten Nubier_innen bekamen Land im Norden Aswans um Kom Ombo zugewiesen. Andere ließen sich in neuen Siedlungen um den Staudamm und in Aswan nieder. Präsident Nasser versprach, dass die Umsiedlung nur für kurze Dauer sein werde und sie später neues Land am Ufer des Stausees erhalten würden. Doch Nasser starb und sein Versprechen wurde bis heute nicht eingelöst.

Vom Fluss in die Wüste.

Das Land um Kom Ombo, das den Nubier_innen als neues Siedlungsgebiet zugewiesen wurde, liegt etwa 50 Kilometer vom Nil entfernt in der westlichen Wüste. Das war nicht einfach für Menschen, die ein Leben lang am Ufer des Nil gelebt haben und als Fischer_innen und Farmer_innen ökonomisch vom Fluss abhängig waren. «Wir sind ein Nil-Volk», sagt Soliman. «Unsere Kultur und unser Charakter sind vom Fluss geprägt.» Die neue Umgebung bedeutete für die Umgesiedelten daher einen völligen Bruch mit ihrer bisherigen Lebensweise. Hinzu kam, dass die vom Staat zur Verfügung gestellten neuen Häuser schlecht gebaut waren. Die Wände bekamen innerhalb kurzer Zeit Risse, der Verputz bröckelte ab. Und was noch schlimmer war: Die salzigen Böden waren für Landwirtschaft wenig geeignet. Viele Nubier_innen zogen daher auf der Suche nach Arbeit in den Norden. So auch die Eltern von Soliman, der in Ismailia am Suezkanal geboren wurde.

In der Schule hat Soliman nichts über die Nubier_innen gelernt. Die ägyptische Geschichte, das sind in den Schulbüchern zunächst die Pharaonen, dann die Muslime. Alles andere werde ausgeblendet. «Die Lehrer haben uns immer gesagt, wir seien alle Araber, unsere Sprache Arabisch, unsere Religion der Islam. Das wäre immer schon so gewesen», erzählt Soliman. Dass seine Mutter Nubisch, aber kaum Arabisch sprechen konnte, sei ihm als Kind peinlich gewesen. Soliman hat das Nubische nie erlernt, er spricht Arabisch. Es dauerte viele Jahre, bis er sich seiner nubischen Wurzeln bewusst wurde und begann, sich als Aktivist für das Recht der Nubier_innen auf Rückkehr an den Nil einzusetzen.

Umso wichtiger ist es ihm heute, Menschen die nubische Kultur näher zu bringen. Daher auch die Pizzen mit nubischen Namen. Von 1999 bis 2002 engagierte Soliman sich im Verein «Nubia Club» in Wien. «Wir mussten ihn aber schließen, da die Organisatoren inzwischen alle Familien haben und daher wenig Zeit, sich um Vereinsaktivitäten zu kümmern», sagt Soliman. Die nubische Community in Wien bestehe aus 60 bis 70 Leuten. «Man kennt sich», sagt er, stehe in regelmäßigem Kontakt, spreche über das, was in Ägypten passiere. Dass er seinen beiden Kindern die Geschichte der Nubier_innen und ihre Kultur näher bringt, sei ihm wichtig. Gerne hätte er, dass die beiden die nubische Sprache erlernen. «Aber das ist in Wien natürlich schwierig.»

Neue Hoffnung.

Seit dem großen Exodus träumen immer noch viele Nubier_innen von einer Rückkehr an den Nil. Doch die ägyptischen Regierungen ignorierten das einst gegebene Versprechen. Stattdessen begann Präsident Hosni Mubarak in den 90ern, die Region um den Stausee mit arabischsprachigen Ägypter_innen zu besiedeln. Große Hoffnung setzten die Nubier_innen in die neue Verfassung, die Ägypten 2014 erhielt. Laut Artikel 236 verpflichtet sich der Staat, der nubischen Bevölkerung im Süden Ägyptens innerhalb von zehn Jahren Land entlang des Stausees zu übertragen und dieses mit der notwendigen Infrastruktur auszustatten. Doch geschehen ist bisher nichts. Als die Regierung stattdessen im Jahr 2016 rund 390 Hektar altes nubisches Siedlungsgebiet südlich von Aswan zum Verkauf an Investoren freigeben wollte, kam es zu Protesten. Die «Nubian Return Caravan» veranstaltete ein Sit-in auf der Straße von Aswan nach Abu Simbel. Soliman, der schon an einigen Demos für die nubische Sache teilgenommen hatte, schloss sich auch der «Caravan» an. Doch Geheimdienste wurden auf ihn aufmerksam, erzählt er. «Ich stehe auf einer Liste.» Die Gefahr sei groß, dass er bei seiner nächsten Einreise verhaftet wird. «Ich fahre daher nicht mehr nach Ägypten.»

Schritt für Schritt.

Aktuell sieht es so aus, als sei die Regierung zu Zugeständnissen bereit. Für Juni 2018 stellt sie 320 Millionen Ägyptische Pfund (14,5 Millionen Euro) in Aussicht, um die Infrastruktur in den Dörfern um Kom Ombo zu verbessern. Weitere fünf Milliarden Ägyptische Pfund (etwa 230 Millionen Euro) sollen in den nächsten fünf Jahren in die Entwicklung des südlichen Ägyptens investiert werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und nubische Altertümer zu schützen.

Doch Soliman ist skeptisch. Im März 2018 wird in Ägypten ein neuer Präsident gewählt, und im Wahlkampf werde ja gerne viel versprochen. Außerdem vermutet er, dass die Zugeständnisse in erster Linie darauf abzielen, die Siedlungen um Kom Ombo, die den Nubier_innen nach der Umsiedlung zugewiesen wurden, für diese attraktiver zu machen. «Aber wir wollen nicht in Kom Ombo leben, sondern am Nil», sagt Soliman. «Darüber, dass wir zurückkehren können, hat Präsident Al-Sisi nie gesprochen.»

Das Verhalten der ägyptischen Regierung gegenüber den Nubier_innen ist ein Stück weit von den Ereignissen von 1956 geprägt. Damals hat der Sudan per Referendum seine Unabhängigkeit von Ägypten erlangt. Seitdem besteht die Angst, dass die nubische Bevölkerung im Süden Ägyptens gemeinsam mit jener im Norden des Sudan einen eigenen Staat ausrufen könnte.

Doch das sei nie Idee der ägyptischen Nubier_innen gewesen, sagt Soliman. Alles, was sie wollten, sei wieder als Gemeinschaft am Ufer des Nil leben zu können. Soliman hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das eines Tages geschehen wird. Aktuell arbeiten Aktivist_innen an einer Beschwerde gegen die ägyptische Regierung, die sie in der Afrikanischen Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker einreichen

wollen. Vielleicht ein Schritt am Weg zurück an den Nil.

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