Verteidigung der Gleichheittun & lassen

Modernismus versus Traditionalismus - oder:

Warum eine modernisierte Sozialdemokratie nicht darum herumkommen wird, einen sehr traditionellen Grundwert neu zu entdecken.

  1. Die Idee der Gleichheit ist ganz gehörig aus der Mode gekommen. Dies ist kein bloß sekundäres polit- und ideengeschichtliches Phänomen, sondern von unerhörter Brisanz für „die Linke“ jedweder Coleur, für die nach dem Wort des italienischen marxistischen Philosophen Norberto Bobbio – „das Ideal der Gleichheit immer der Polarstern war, den sie angeschaut hat und weiterhin anschaut“. Für ihn blieb, auch in Zeiten der modischen Relativierung des Gegensatzes „Rechts und Links“, das egalitäre Prinzip konstitutiv für jede Linke – wenn auch nicht als Utopie einer Gesellschaft „der Gleichen“, so doch in Form des Stebens, „die Ungleichheiten etwas gleicher werden zu lassen“. Doch schon Bobbio mußte sich in einer Kontrovere von seinem britischen Freund und Mitstreiter Perry Anderson fragen lassen, ob es denn wirklich „der Fall ist, daß die Linke, so wie sie aktuell in Europa heute existiert, alle Funktionaltität der sozialen Ungleichheit bestreitet?“

    Tatsächlich repräsentieren die europäischen Sozialdemokratien die Gerechtigkeitsideale breiter Gesellschaftschichten, die immer auch und vor allem Gleichheitsideale sind, allenfalls in höchst subtiler Weise. In Wahrheit hat die Sozialdemokratie – vor allem in Deutschland und Österreich – das Gleichheitssprinzip still sterben lassen (interessant ist in diesem Zusammenhang, daß selbst Tony Blair formulierte, es sei die Herausforderung für die Parteien der linken Mitte, „Gleichheit neu zu denken“). Im Geheimen messen viele führende Sozialdemokraten sozialen Ungleichheiten längst eine positive Funktion in dynamischen Gesellschaften zu. „In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität“ – diese laute Selbstdenunziation ist die Schlüsselformel des einschlägigen „Schröder-Blair-Papiers“. Die österreichische Sozialdemokratie brachte es gar zuwege, in ihrem neuen Parteiprogramm, das 1998 verabschiedet wurde, den „Grundwert“ Gleichheit noch als Kapitelüberschrift beizubehalten, in dem entsprechenden Abschnitt aber nur mehr von „Chancengleichheit“ zu reden. Der Abschied vom Gleichheitsideal materialisiert sich auf der Ebene der Programmatik somit zuerst in Form einer Revision, der Verschiebung von Begriffen.

    Zwar dürfe, formulierte schon der britische Soziologe Anthnony Giddens, Stichwortgeber aller sozialdemokratischen „Modernisierer“, in seinem Büchlein „Der Dritte Weg“, die Idee der „Umverteilung nicht von der sozialdemokratischen Tagesordnung genommen worden“, doch müsse sie künftig als „Umverteilung der Chancen“ interpretiert werden. Giddens: „Die Förderung menschlicher Kreativität und Möglichkeiten sollte, soweit es geht, eine nachträgliche Umverteilung ersetzen.

    Auf dem Rücken des Begriffs der „Chancengerechtigkeit“ schleicht sich das marktliberale Leistungscredo tief in die sozialdemokratischen Lagen hinein. Er ist von der marktliberalen Selbstillusion freier und gleicher Märkte, auf denen alle Akteure die gleichen Chancen haben sollen, zu Gewinnern (und damit auch: zu Verlierern) werden zu können, praktisch ununterscheidbar geworden. Aus dieser Perspektive ist kaum mehr zu argumentieren, wie bereits einmal realisierte Ungleichheiten noch korrigiert werden könnten (und warum dies geschehen sollte), sieht man von zwei Einschränkungen ab. Erste Einschränkung: jeder soll in modernen Marktökonomien überleben können. Zweite Einschränkung: Ungleichheiten sollen sich über die Genealogie der Generationen wenn möglich nicht zu neuen „Chancenungerechtigkeiten“ verfestigen. Dies ist alles, was vom alten Gleichheitsideal geblieben ist.Es gehört zur Ironie dieser Geschichte, daß die sozialdemokratischen Modernisierungsrhetoriker der ehrlichen Überzeugung sind, mit dieser Revision auf allgemeine Bewußtseinslagen der Bevölkerung zu reagieren. Es ist dies ein eindrucksvoller Fall ideologischer Selbstüberlistung. Weil angesichts der ideologischen Hegemonie des Marktliberalismus und des kapitalistischen Konkurrenzprinzips die Gleichheitsideale der Mehrheiten weder politisch noch medial repräsentiert sind, sitzen selbst jene, denen es traditionell gegeben ist, diese Gleichheitsideale zu verkörpern, dem Trugschluß auf, diese würden nicht (mehr) existieren.

  2. Selbst von den eigenen Parolen lassen sich die sozialdemokratischen Parteiführer dabei übertölpeln. Dabei werden die Gleichheitsideale vor allem deshalb nicht zur politisch materialisierten Gewalt, weil sie politisch nicht vertreten sind, weil die sozialdemokratischen Führungen dem, was der US-Politologe Philip Green in seinem Buch „Equality an Democracy“ den „Angriff auf die Gleichheit“ nennt, keine Alternative entgegenstellen. Die brach liegenden Glreichheitssentiments werden im schlimmsten Fall – dann auf deformierte Art von populistischen Führern wie Jörg Haider, Christoph Blocher und anderen repräsentiert.

    In Deutschland ist es soweit zwar bisher nicht gekommen. Doch: „Wie ist es möglich, daß der neue Kanzler die Neue Mitte so wenig kannte?“, kann auch der Politikwissenschaftler Michael Vester den Realitätsverlust Gerhard Schröders kaum fassen (Die Zeit 2. 12. 1999). Tatsächlich besteht die „Neue Mitte“, die der SPD 1998 zum Sprung über die 40 Prozent verholfen hat (das Gros der Stimmen von etwa 30 Prozent stellen bei erfolgreichen Sozialdemokratien ohnehin die traditionellen Stammwähler) keineswegs aus den jungen, urbanen Ellbogen-Gegenwartsmenschen, die auch in modernen Dienstleistungsgesellschaften nicht mehr als 10, 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen. „Die wirkliche Neue Mitte ist anders“, interpretiert Vester die Forschungsergebnisse seiner Studiengesellschaft „agis“. Hierzu gehören aufgestiegene und „moderne Arbeitnehmer“, die „soziale Kälte“ nicht ertragen, und einen „starken Sinn für soziale Gerechtigkeit“ haben, „leistungsorientierte Arbeitnehmer“, für die Solidarität immer noch „ein hoher Wert“ ist. Sie haben die Sozialdemokratie gewählt, weil sie Repräsentant des sozialen Gerechtigkeitsideals ist. So brach die SPD bei allen Wahlen im Herbst 1999 ein, weil 53 Prozent derer, die sie ein Jahr zuvor gewählt haben, die Partei nicht mehr mit sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringen (taz. 8. 12. 1999). Die Sozialdemokratie ist drauf und dran, „ihr eigenes Egalitätsideal zu verraten“, zürnt – ebenfalls in der „Zeit“ – der Philosoph Hauke Brunkhorst folgerichtig. Weil die SPD verliert, wenn die Stammwähler wegbleiben, ortet Gunter Hofmann in der Zeit eine „Wahlverwandtschaft der Macht- mit der Gerechtigkeitsfrage“.

    Die Sozialdemokratie schlittert nicht in die Krise, weil ihre klassischen Leitideen in der Bevölkerung aus der Mode gekommen sind, sondern weil sie diese im Zuge modernistischer Selbstdistanzierung von der eigenen Geschichte und Identität nicht mehr zu verkörpern versteht. Dieses Urteil wird selbst vom konservativen Institut für Demoskopie Allensbach gesprochen. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist, folgt man der Allensbach-Forscherin Renate Köcher, „für einen Ausbau des Sozialstaats auch um den Preis einer verstärkten Reglementierung und höherer Steuern … 53 Prozent sprechen sich dafür aus, nur noch 25 Prozent dagegen.“ Den modernen Formeln von der Freisetzung von Eigenintiative im Marktwettbewerb mögen zwar eine Mehrheit der Leitartikler frönen, ihnen folgt aber nur eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung. „Nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung verbindet mit mehr Eigenverantwortung und weniger Staat größere Entscheidungsfreiheit für den einzelnen“. Eine relative Mehrheit ist zudem der Überzeugung, „daß sich ein Land besser entwickelt, in dem nicht nur die Chancengleichheit gewahrt wird, sondern das auch nach Gleichheit im Ergebnis strebt“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. 6. 1999).

    In Österreich, wo die Sozialdemokratie im Oktober 1999 ein historisches Wahldebakel erlitt, liegen die Dinge ähnlich. Von den früheren SPÖ-Wählern, die ihrer Partei diesmal die Gefolgschaft versagt hatten, führten 54 Prozent als Grund für ihr Verhalten an, „weil die sozialdemokratischen Grundsätze vernachlässigt wurden“, ergab eine jüngst veröffentlichte Studie. 42 Prozent gaben zu Protokoll, daß „die Partei nichts zu bieten hat, wofür man sich begeistern kann“. In einer anderen Umfrage klagen 42 Prozent der Österreicher, daß Leistungs- und Gewinnstreben zunehmend „unmenschliche Züge“ bekommen, immerhin jeder fünfte Österreicher wünscht sich, „daß alle gleich viel verdienen“. Dies ist es, was Oskar Lafontaine den „Sozialdemokratismus des Volkes“ nennt, der weit über die sozialdemokratischen Kernschichten hinausreicht.

  3. Die Gleichheit ist ein vertracktes Ding. Als Ideal führte sie in der linken Theoriegeschichte – wie jedes Ideal, das in Hinblick auf das Prinzip des historischen Materialismus unter immerwährenden Moralitätsverdacht steht – ein Leben im Schatten, im Nebel der Werte. Ein Umstand, der sie besonders verletzbar macht. Anthony Giddens hat sicher nicht unrecht, wenn er in seinem Buch „Jenseits von Links und Rechts“ schreibt, daß das Prinzip der Herstellung von Gleichheit „nie zur Gänze in die Kernannahmen des sozialistischen Denkens integriert worden“ ist. Denn „die >intelligente Kontrolle<, des sozialen Lebens – die Unterwerfung der Marktkräfte unter eine zentrale Steuerungsinstanz – steht in keinem besonderen Verhältnis zum Ethos der Gleichheit, außer vielleicht insofern sie die Verfügungsmacht schafft, die den Reichen etwas nehmen könnte, um es den Armen zu geben.“

    Selbst Karl Marx hatte in seinen späten Tagen hochgradig gereizt reagiert, als die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Gothaer Programm die Forderung nach „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheiten“ erhob. „Anstatt der unbestimmten Schlußphrase“, bekrittelte der Stammvater der modernen Linken verärgert aus seinem Londoner Exil, „war zu sagen, daß mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringenden sozialen und politischen Ungleichheiten verschwinden“.

    Tatsächlich ist das Ideal der Gleichheit älter als jede sozialistische Theorie und nährte sich aus vielerlei Traditionen. Schon mit dem Entstehen der modernen Staatstheorie gewann nicht nur die Vorstellung der formalen, rechtlichen Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz an Boden, sofort wurde die Frage aufgeworfen, ob der Zusammenhalt eines Gemeinwesens nicht die relative soziale Gleichheit seiner Bürger voraussetze. „Seiner Natur nach strebt der Wille des einzelnen nach Vorrechten, der Allgemeinwille dagegen nach Gleichheit“, wußte Rousseau in seinem „Contrat social“, und auch, „daß den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur so lange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat“. Der Drang nach mehr Gleichheit wurde gar in den Rang eines Objektiven gehoben, wird nach Tocqueville doch „der Wunsch nach Gleichheit um so unersättlicher, je größer die Gleichheit ist“.

    Einen immerwährenden Impuls erfuhr das Gleichheitsideal auch durch die „plebejische Kultur“, die täglichen Praxen der Unterklassen, die ihrerseits Teils in sedimentierten Erinnerungsspuren, rechtlichen Gleichheitsvorstellungen, einem moralischen Rechtsempfinden, Vorstellungen eines „gerechten Preises“ und eines „angemessenen Lohnes“ ruhten, Teils durch die Alltagserfahrungen von Handwerkern und Fabrikarbeitern genährt wurden. So war noch die fordistische Fabrikorganisation, die individuelle Fertigkeiten entwertete und insofern die Arbeiter „immer gleicher“ machte eine mächtige Verbündete der Gleichheitsvorstellungen. Auch in Gestalt eines mehr oder weniger diffusen „Gemeinschaftsgefühls“ war uns die Gleichheit bekannt.

    So war in der „marxistischen“ Arbeiterbewegung zwar die Gleichheit ausgeblendet, doch auf seltsame Art – wie jeder „Wert“ als abwesend-anwesender „am Werke“. Dem Ideal der Gleichheit haftete als „bloß“ Utopisches das Odeur des Moralischen an, wohingegen der „wahre“, weil „wissenschaftliche“ Sozialismus seine Macht ja auf den Widersprüchen des Kapitalismus selbst und weniger auf den Wünschen und Empörungen seiner Opfer begründen wollte. Andererseits war das Ideal der Gleichheit immer stillschweigend vorausgesetzt. Die Ungleichheit war ein Indiz im Prozeß, den Marx dem Kapitalismus machte, das in der Anklageschrift freilich fehlen sollte, während die Empörung über die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten immer primärer Antrieb der „real-existierenden“ Arbeiterbewegung war.

  4. Derart zentral und periphär, anwesend und abwesend zugleich, politisch still repräsentiert und stumm vorausgesetzt, sind die Gleichheitshoffnungen der Mehrheiten nie vordergründig sichtbar gewesen und sie sind es heute weniger denn je. Das kollektivistische Motiv des Gleichheitsideals und das Versprechen auf Befreiung des Individuums aus gesellschaftlichen und somit kollektiven Zwängen lag immer in einem Spannungsverhältnis, wie es von Marx in der berühmten Formulierung des „Kommunistischen Manifests“ aufzulösen versucht wurde, wonach im Kommunismus „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

    So müssen die Gleichheitshoffnungen in ihrer oft paradoxen Gestalt gesehen werden. Schon die immer genervte Rechtfertigung der Ungleichheit als sozial funktional durch die Ideologen des Konkurrenzprinzips verweist auf einen tief sedimentierten Begriff der Gleichheit. Auch der Egalitarismus selbst tritt oft nur auf subtile Art, sozusagen negativ auf: nicht als Forderung nach „mehr Gleichheit“, sondern als waches Sensorium für jedwede Gefährdungen der Gleichheit, die auch in Neid und Ressentiments ihren Ausdruck finden können. So mag zwar jeder das Bedürfnis nach Distinktion verspüren, ist gleichzeitig aber Adressat der Distinktionsbedürfnisse anderer, die dann aber „Überheblichkeit“ und „Arroganz“ heißen, auf die der Einzelne leicht allergisch reagiert. In dieses Bild der Paradoxien fügt sich, daß ausgerechnet die Epoche „gleichmacherischer“ Massendemokratien die Ideologie des „Individualismus“ entwickelte, und just im Zeitalter kapitalistischer Uniformierung und Standardisierung die feinen Unterschiede zwischen den Massenexistenzen immerwährend betont werden.

    „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an“, beobachtete Siegfried Kracauer schon in den zwanziger Jahren in seinen berühmten Studien der modernen Angestelltenwelt. Es hat schon etwas groteskes, daß ausgerechnet die kapitalistischen Funktionseliten, denen ihre Austauschbarkeit in Gestalt ihrer „Business-Suites“ auf den Leib geschrieben steht, gegen die „Gleichmacherei“ der Sozialdemokraten wettern – und daß die längst ebenso angetanen sozialdemokratischen Parteiführer angesichts dieser Rede gar auch noch verschreckt verstummen. In der standardisierten Produktion schließlich erweist sich der Kapitalismus als die große Gleichmachermaschine. Die einzige Distinktion, zu der diese Produktion noch fähig ist, ist die der Einteilung in Güteklassen. Doch selbst dieses Prinzip ist noch egalitär, insofern als innerhalb der notwendig begrenzten Zahl an solchen Klassen jedes Produkt „gleich“ sein muß.

  5. „Ideale“ und „Utopien“ hatten, dies ist die Erbschaft des „historischen Materialismus“, in den linken Gedankengebäuden nur soweit Platz, als sich in ihnen Wünsche und Interessen und Objektives, das „real Mögliche“ (Ernst Bloch) kreuzten. Das materialistische Prinzip war insofern immer anti-utopisch und anti-ethisch, als es darauf beharrte, daß die Utopie im Horizont des Möglichen sich bewegen müsse. Genaugenommen postulierte die materialistische Theorie freilich, daß sich aus dem, was Marx die „wirkliche Bewegung“ der kapitalistischen Struktur nannte, immer eine Reihe verschiedener historischer Möglichkeiten, historischer Tendenzen ergeben (wohingegen manches außerhalb der Reichweite des aktuell Möglichen sich befindet, und in solchen Fällen jede Ethik in saurem Moralismus umschlägt, da dann alles Wünschen nichts hilft). An diesem Punkt kommt selbstverständnlich die Ethik ins Spiel (ebenso wie konkrete Klassen- und Schichteninteressen), wenn Subjekte sich entscheiden, welche dieser Möglichkeiten in die Wirklichkeit transformiert werden soll.

    Der Kapitalismus der fordistischen Epoche, des genormten und standardisierten Lebens, trug weitgehende Gleichheit als Tendenz in sich, mündete aber ebensowenig notwendig in einer Gesellschaft der Gleichen, wie der Kapitalismus der dritten technologischen Revolution – der „Postfordismus“ – zwangsläufig zu mehr Ungleichheiten führen muß.

    Die Linke muß freilich das Vertrauen auf historische Gesetzmäßigkeiten aufgeben, weil sie nur so wieder zur „Partei der Hoffnung“ (Richard Rorty) werden kann, muß die schlummernden „Leidenschaften der Menschen am unteren Ende der Hierarchien“ wecken (Michael Walzer). Das Eintreten für sozialistische Werte läßt sich „nur noch aus der ethischen Überzeugungen heraus (rechtfertigen), daß so die Gerechtigkeit befördert werde“ (Stephen Bronner). Sie muß ihr altes Gleichheitsideal nicht verwerfen, sondern im Gegenteil, sie muß dieses neu entdecken.

  6. Anlaß hierfür gibt es genug. In den USA sind die Reallöhne in den 90er Jahren unter das Niveau der 70er Jahre gefallen. In der BRD hat die Lohnquote 1998 den niedrigsten Stand seit 1949 erreicht. Sie liegt in Deutschland „und in Europa insgesamt heute niedriger als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Heiner Flassbeck). Selbst detailierte Studien belegen auch für angeblich „sozialdemokratisierte“ Wohlfahrtsgesellschaften wie Österreich und die Bundesrepublik ein dramatisches Wachstum der Ungleichheiten in der Einkommensverteilung. So ist die „Armutsquote“ in der BRD „zwischen 1962/63 und 1978 kontinuierlich zurückgegangen“, rechnet etwa der Sozialwissenschaftler Richard Hauser vor. „Mußte 1962 noch etwa jeder zehnte Bundesbürger mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens auskommen, so war es 1978 nur mehr jeder Fünfzehnte … bis sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre die Entwicklungsrichtung umkehrte. 1988 erreichte die Armutsqote wieder 8,8 Prozent und lag damit deutlich über dem Wert von 1969, 1993 lag sie mit 10 Prozent sogar wieder auf dem Ausgangsniveau von 1962.“

    Während die sozialphilosophische Literatur über kulturalistische Gerechtigkeitsnormen (zwischen den Geschlechtern, zwischen Ethnien etc.) in den vergangenen Jahren Bibliotheken anwachsen ließ, findet die Debatte, welches Ausmaß an sozialer Ungleichheit sich eine Gesellschaft leisten kann und will paradoxerweise nicht statt. „Während die Sozialhilfe für den gesamten Lebensunterhalt einer Sechsjährigen einen Regelsatz von 273 Mark im Monat gewährt, steht dem Haushalt eines Selbständigen pro Kopf vom Säugling bis zur Oma monatlich 7.550 Mark an ausgabefähigem Einkommen zur Verfügung. 28-mal mehr“, rechnet Martin Künkler, Koordinator verschiedener gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, in der „taz“ vor vor. Und er stellt die selten gehörte, gleichsam verbotene Frage: „Warum soll nicht, wer das zwei-, drei- oder vierfache des Durchschnitts verdient oder besitzt, als so ausreichend reich gelten, daß darüber hinaus gehender Reichtum zu größeren Teilen abgeschöpft oder wieder für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden darf?“

  7. Wir können das Netz nunmehr zuziehen. Die Gerechtigkeitsfrage, die heute jeden politischen Diskurs – von der Steuergesetzgebung bis zur Globalisierungsdebatte – dominiert, ist nicht zu klären, solange um die Frage der „Gleichheit“ wie um einen heißen Brei herumgeredet wird. Der öffentliche politische Diskurs der Eliten über die Sachzwänge moderner, dynamischer, globalisierter Ökonomien und der Alltagsverstand breiter Bevölkerungsschichten klaffen dramatisch auseinander. Bei allen Unwägbarkeiten der Demoskopie – zumindest eine gewichtige Minderheit, wenn nicht die bedeutende Mehrheit der Bevölkerung in den (kontinental-)europäischen Ländern ist der Überzeugung, daß mehr Gleichheit der gesellschaftlichen Entwicklung gut täte und daß es in diesen Gesellschaften nicht mehr gerecht zugeht. Eine große Mehrheit der Bürger geht davon aus, daß die Sozialdemokratien jene Parteien sein müßten, die Ungerechtigkeiten bekämpfen – und sind offenbar etwa in der BRD und in Österreich überzeugt, daß die Sozialdemokraten diese ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen (in Frankreich liegen die Dinge anders, ebenso – wenn auch aus anderen Gründen – in Großbritannien). Dies führt teils zu schmerzhaften Krisenerscheinungen (wie jenen der SPD) oder gar zu einem dramatischen Kollaps des traditionellen Parteiensystems (wie in Österreich) – und in jedem Fall zur Sklerose der hergebrachten sozialdemokratischen Parteiorganisation. Indes tobt in den europäischen Sozialdemokratien ein Streit um die falsche Alternative zwischen sogenannten „Modernisierern“ und sogenannten „Traditionalisten“ – erstere nehmen Abschied von der Gleichheit, letztere verteidigen sie auf verquere Art, durch das Prisma überholter Institutionen und schnüren ihr nicht selten ihre „vested interests“ auf den Rücken.

    Totale Gleichheit der Einkommen ist nicht möglich, und die meisten Menschen halten sie wahrscheinlich auch nicht für erstrebenswert. Aber eine mindestens ebenso große Mehrheit hält dramatische Einkommensunterschiede für gleichsam verwerflich; kein Mensch kann darüber hinaus die totale Durchökonomisierung und -monetarisierung der Gesellschaft begrüßen. Zudem sind große Ungleichheiten auch ökonomisch kontraproduktiv. Alle Erfahrung zeigt, „daß ein höherer Grad an Ungleichheit“ wirtschaftlichem Wachstum „ungünstiger ist als ein geringerer Grad an Ungleichheit“ (Peter Green). Auch wenn man die Notwendigkeit ökonomischer Anreize nicht bestreiten mag, so sind diese nie „natürlich“, sondern in ihrer praktischen Ausformung „erlernt“ und auch moralisch eingefärbt. Jede Gesellschaft verfügt über Codes darüber, „was man tun kann“ und was man „nicht tun kann“. Was als legitime Verfolgung egoistischer ökonomischer Interessen in einer konkreten Gesellschaft gilt, ist immer begrenzt. Jenseits dieser Grenze beginnt jener Grad an Gewinnstreben, den die Gesellschaft als „kriminell“ oder als „unmoralisch“ definiert – oder als beides. Das marktliberale Credo, daß sich der Wert eines Gutes an dessen monetärer Bewertung mißt, ist in der gesellschaftlichen Praxis nicht zu verteidigen. „Daß heutzutage Babies gekauft und verkauft werden, gilt nicht als Ausweis dessen, daß wir den Wert menschlichen Lebens so hoch schätzen, sondern ist Ausdruck für das Ausmaß sozialer Verwahrlosung“, schreibt Peter Green in seiner Studie „Equality and Democracy“ – wer wollte ihm widersprechen?

    Wer große Ungleichheiten in Kauf nimmt, akzeptiert zudem, daß viele Menschen in wirtschaftlich und sozial deklassierten Verhältnissen leben; diese Menschen werden, wenn das gesellschaftliche Versprechen auf mehr Gerechtigkeit nichts mehr trägt, träge, perspektivlos, wenn nicht kriminell… Sie erzeugen soziale Kosten. Damit es auch der letzte Marktprophet versteht, sei hier in der Sprache der Wirtschafttheorie formuliert: Wenn es für diese Menschen keine Wahrscheinlichkeit für sozialen Aufstieg gibt – wenn also von rationalen Erwartungen auf sozialen und wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr gesprochen werden kann -, dann werden diese Erwartungen notwendigerweise reduziert (möglicherweise auf einen Wert nahe null) und diese Menschen werden weit weniger zum allgemeinen sozialen und ökonomischen Fortschritt einer Gesellschaft beitragen als sie ansonsten täten.

    Wir sehen also: nicht nur sind in unseren Gesellschaften sedimentierte Gleichheitsideale lebendig und am Werke, es gibt auch gute Gründe, die Gleichheit gegen ihre Feinde zu verteidigen.

  8. Unterprivilegierte haben ein Interesse an mehr „Gleichheit“, das „Ethos der Gleichheit“ ist aber auch eine jener politischen Leidenschaften, ohne die „keine politische Partei oder Bewegung, die gegen die auf Reichtum und Macht gegründeten, etablierten Hierarchien antritt, … jemals erfolgreich sein können“ wird, wie der US-Sozialphilosoph Michael Walzer schreibt. Nur die Empörung über die Ungleichheit kann jene politischen Leidenschaften mobilisieren, die nötig sind, um mehr Gleichheit zu realisieren. Insofern ist nur folgerichtig, daß der Abschied vom „Gleichheitsideal“ von Seiten eines modernistischen Technokratismus verkündet wird, dem die politische Aktivierung der Menschen – der Objekte technokratischer Politik – seit jeher störend ist. Ein solcher Modernismus kommt der Abwicklung der Sozialdemokratie in jenem Moment gleich, in dem Ungleichheiten dramatisch wachsen. Er zerstört zudem das Vertrauen in jede demokratische Politik, als er sich selbst als logische und notwendige Konsequenz ökonomischer Transformationen deklariert, welche entschiedene Intervention der Politik ins Marktgeschehen künftig nicht mehr möglich mache. Doch wenngleich er das alte Gleichheitsversprechen der Sozialdemokratien fahren läßt, so ist er doch immerhin auch der Versuch einer Antwort auf neue Gefährdungen der Gleichheit, insofern seine Betonung auf „Bildung“, darauf, die Menschen „beschäftigbar“ (employable) zu machen, wenigstens modernen und radikalisierten Exklusionsprozessen entgegenwirken will.

    Die „Traditionalisten“ geben zwar vor, die traditionellen Werte der Sozialdemokratie zu verteidigen, repräsentieren aber allzu oft bloß „vested interests“ – in mehrfacher Hinsicht. Im besten Falle werden die gewohnten Mechanismen des traditionellen Sozialstaates verteidigt, was manche „unintendierten Folgen“ des sozialstaatlichen Regimes (relative Bevorzugung der Mittellagen gegenüber den bedürftigsten Unterschichten) zementiert und auf neue Exklusionprozesse keine sinnvolle Antwort gibt.

    Nicht selten werden auch bloße Apparatinteressen verteidigt (was wiederum freilich noch nichts darüber aussagen muß, ob eine Position in der Sache falsch oder richtig ist). So verschließt, beispielsweise, die Verteidigung der „Flächentarifverträge“ durch die Gewerkschaften zwar da und dort Einfallstore gegen Lohndumping, nimmt aber den Belegschaften ebenso die Möglichkeit, auf der Ebene der betrieblichen Mitbestimmung spezifische Antworten auf ihre spezifischen, aktuellen Probleme zu finden – und dient vor allem Apparatinteressen der zentralen Gewerkschaftsbürokratie, ohne deshalb notwendigerweise ein Mehr an Gleichheit zu realisieren.

    Moderne sozialdemokratische Politik ist beides nicht. Modern ist: Eine neue Politik der Gleichheit, die alte Ungerechtigkeiten und neue Ungleichheiten bekämpft. Eine Politik, die jene Minderheit der Neuen Mitte und der Oberklassen, die sich aus der gesellschaftlichen Solidarität verabschieden, nicht noch mit den modernen Stichworten versorgt, sondern die die Ideologie der „Ungleichmacherei“ bekämpft – ein zunächst ideologischer Kampf. Modern ist ein Bündnis aus Unterklassen und Deklassierten einerseits und den Gleichheitsidealen und dem Unbehagen der Mittellagen andererseits. Modern ist, eine Mehrheit für eine Politik die Umverteilung zu gewinnen; eine Politik somit, die auf die Bildung einer „gauche plurielle“ abzielt, eine pluralistische Mehrheit jenseits des rechten und liberalistischen Konservativismus, die links ist – oder unnütz ist.


Der Autor ist Journalist, lebt in Wien und ist Mitbegründer der „Demokratischen Offensive“

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