Verwahrlosung und Drohungtun & lassen

Fürsorge und Psychiatrie in Österreich: Versuche der Aufarbeitung

Die Fälle von Misshandlungen in Heimen und psychiatrischen Einrichtungen,  die in den letzten ­Jahren ans Licht kamen, sagen viel über das lange Wirken von Ideologien aus. Christian Bunke hat sich neue Studien zum Thema und die Geschichte der «Fürsorge» in Österreich angesehen.

Foto: Mario Lang

«Wenn Sie sich weiter beschweren, kommen Sie nach Steinhof.» Mit dieser Drohung sollte vor einigen Jahren eine besachwaltete Frau aus Wien diszipliniert werden, die mit der Delogierung aus ihrer Wohnung nicht einverstanden war. Das Wort «Steinhof» alleine reicht aus, um eine ganze Bandbreite an Geschichte und Ideologie zu transportieren, auf deren Basis gesagt wird: Wer sich partout nicht fügen will, den können Staatsorgane immer noch als psychisch krank abstempeln.

Im Jahr 1970 schrieb die deutsche damalige «Konkret»-Redakteurin Ulrike Meinhof über mit Fürsorgeerziehung bedrohte Jugendliche: «Weil Fürsorgeerziehung dazu dient, den Jugendlichen zu disziplinieren, hat sie Strafcharakter, kann damit gedroht werden. ‹Wenn du nicht artig bist, kommst du ins Heim (…).› Da vom Heim der Vollzug der Drohungen erwartet wird, nimmt es nicht wunder, daß das Heim der Vollzug der Drohungen ist.»

«Totale Institutionen.» Das ist der Begriff, der fällt, wenn von Fürsorgeeinrichtungen und psychiatrischen Einrichtungen die Rede ist. Derzeit wird wieder öfter darüber geredet, und in Studien wird die Geschichte des österreichischen Fürsorgewesens aufgearbeitet.

 

Prügelstrafen in Steinhof

Ganz neu erschienen ist die vom Wiener Krankenanstaltsverbund in Auftrag gegebene Studie «Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der Wiener Psychiatrie von 1945 bis 1989 – Stationäre Unterbringung am Steinhof und Rosenhügel».

Auf über 600 Seiten wird ein Zustand beschrieben, der im Executive-Summary folgendermaßen zusammengefasst ist: «Pavillon 15 stellte ein umfassendes Gewaltsystem dar, das über den gesamten Untersuchungszeitraum (1945–1983/84) für die überwiegende Zahl der Kinder völlig inadäquate Versorgungs- und Betreuungsverhältnisse aufwies.»

Berichtet wird von sexualisierter Gewalt und Prügelstrafen und von schlecht ausgebildetem Personal, welches großteils aus der NS-Zeit stammte und in der Zweiten Republik weiterbeschäftigt wurde. Schon in der Ersten Republik gab es eine illegale NSDAP-Struktur innerhalb des Personals in Steinhof.

Welche Kinder kamen nach Steinhof? Laut der neuen Untersuchung waren es vor allem die Armen: «Eine Querschnittsuntersuchung aus den 1970er-Jahren über alle zu einem Stichtag auf Pavillon 15 untergebrachten Personen lässt erkennen, dass ca. die Hälfte direkt aus privaten Wohnverhältnissen, die andere Hälfte aus anderen stationären Einrichtungen auf den ‹Kinderpavillon› kam (vgl. Laburda 1981). (…) Sowohl die zitierte Studie als auch die aktuell gesichteten Kranken- und Jugendamtsakten zeigen, dass zwar nicht alle, aber dennoch viele Kinder und Jugendliche aus Herkunftskontexten mit geringen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen kamen.»

Pavillon 15 war eine psychiatrische Einrichtung. Sie war Teil einer größeren Fürsorgeeinrichtung auf dem Gelände der Steinhofgründe. Hierhin kamen Kinder, die als «verwahrlost» und «schwer erziehbar» galten. Nicht alle Kinder in Steinhof waren in der Psy­chiatrie. Aber alle wurden pathologisiert.

Diese Vorgehensweise hatte System, wie ein «Das System der Fürsorgeerziehung. Zur Genese, Transformation und Praxis der Jugendfürsorge und der Landeserziehungsheime in Tirol und Vorarlberg» betitelter Forschungsbericht aus dem Jahr 2015 beschreibt. Die Jugendwohlfahrt der Zweiten Repu­blik sei von Beginn an «von einer Sorge um die Jugend» geprägt worden. Die Pathologisierung habe «die Errichtung von Heimstrukturen, angesiedelt im mediko-pädagogischen Feld zwischen Erziehungsanstalt und Klinik» befördert, die «bald zu strategischen Schlüsselstellen der Fürsorgeerziehung avancierten».

Der Begriff der Verwahrlosung hat eine Jahrhunderte alte Geschichte. Er begegnet uns in der NS-Zeit, in welcher «verwahrloste» und «arbeitsscheue» Jugendliche in eigens für sie bestimmte Konzentrationslager geschickt wurden. Schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde «Verwahrlosung» mit biologischen und psychiatrischen Argumentationsmustern erklärt. Man sprach von der «erbbiologischen Psychiatrisierung des ‹schwer erziehbaren Kindes›». Laut dem Tiroler Forschungsbericht zählten dazu: «‹Arbeitsscheu›, Vagabundieren, Bettelei, Alkoholismus›, aber auch «von christlich-bürgerlichen Moralvorstellungen abweichende sexuelle Praktiken und Lebensformen wie Onanie, Homosexualität, Prostitution und uneheliche Mutterschaft sowie herrschaftskritische politische Einstellungen wie Sozialismus, Feminismus oder auch Anarchismus».

Zentral daran sei, dass «mit den Deutungsmustern der Degeneration und Entartung den betroffenen Kindern und Jugendlichen die Erziehbarkeit und Bildbarkeit abgesprochen wurde». Hier findet sich ein fließender Übergang zu eugenischem Gedankengut. «In den Klassikern der Verwahrlosungsforschung des frühen 20. Jahrhunderts wurde ‹erbliche Belastung› einem großen Teil der als ‹verwahrlost› stigmatisierten Kinder und Jugendlichen zugeschrieben.»

Die Nazis konnten somit auf einen reichen Schatz an Ideologie zurückgreifen. Ab 1934 begann man mit der Zwangssterilisation sogenannter «Asozialer». Eine nationalsozialistische Definition dieses Begriffes aus dem Jahr 1940 enthält unter anderem den Satz: «Hierunter sind auch solche Familien zu rechnen, die ihre Kinder offensichtlich als Einnahmequelle betrachten und sich deswegen für berechtigt halten, einer geregelten Arbeit aus dem Weg zu gehen (…).»

 

Mit Zwang in den Arbeitsmarkt

Ab 1935 mussten sich alle Lohnabhängigen mit einem «Arbeitsbuch» beim Arbeitsamt registrieren. Im Juni 1938 wurde im gesamten Reichsgebiet die Aktion «Arbeitsscheu Reich» in Zusammenarbeit mit örtlichen Fürsorgebehörden durchgeführt. Zehntausende wurden als sogenannte «polizeiliche Vorbeugungshäftlinge» in Konzentrationslagern inhaftiert.

In Wiener psychiatrischen Einrichtungen der Nachkriegszeit wurden noch lange Zwangssterilisationen durchgeführt. Das entsprach dem Geist der nationalsozialistischen Ideologie. Doch der Kern, um den herum sich das Fürsorgesystem aufgebaut hat, reicht bis in die Frühzeiten der modernen Industriegesellschaft zurück. Mit der Entwicklung des Fabriksystems und der Notwendigkeit, massenhaft Arbeiter_innen für die Fabriken zu bekommen, wurde Mittellosigkeit als Alleinkriterium für Bedürftigkeit abgeschafft.

Die Gründung der ersten Waisen-, Arbeits- und Zuchthäuser ging mit dem Bestreben einher, die dort untergebrachten Menschen mit Zwangsmitteln dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Schon Karl Marx berichtet im ersten Band des «Kapitals» von regelrechten Deals zwischen der katholischen Kirche und Einzelunternehmen, an welche ganze Belegschaften von Waisenhäusern «verkauft» wurden. Zwangsarbeit blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg lange ein wesentlicher Bestandteil des Fürsorgewesens.

Dass man all dies heute weiß, dass die Leidensgeschichten der Betroffenen jetzt in Studien aufgearbeitet werden, ist nicht vom Himmel gefallen. In den 1960er-Jahren begannen von den antikapitalistischen Bewegungen jener Zeit inspirierte junge Sozialarbeiter_innen damit, die Zustände in den Heimen zu kritisieren. Parallel dazu entstand eine Bewegung der Betroffenen selbst. Dokumentarfilme und Fernsehdebatten beschäftigten sich mit dem Thema, und Reformen wurden in Gang gesetzt.

Und doch hat die Geschichte kein Happy End. Immer noch vergeht kaum eine Woche, in der Behindertenrechtsorganisationen wie «Bizeps» nicht auf neue Missstände in geschlossenen Einrichtungen hinweisen. Die sogenannte De-Institutionalisierung kommt in Österreich nur schleppend voran. Und längst gibt es wieder eine gesellschaftliche Debatte, die voller Sorge auf die «herumgammelnden Jugendlichen vom Westbahnhof» oder «Gangs am Handelskai» schaut und an neuen, aber doch so alten, autoritären Lösungswegen arbeitet.