Vibrationen überm Wildschweintunneltun & lassen

Die Religion der Hochgeschwindigkeit und ihre Opfer

Der Meidlinger Pensionist Leopold S. hat Schlafprobleme. Nachts vibrieren die Vitrinen seiner Wohnzimmerschränke, und er hört Zuggeräusche. Er wohnt über dem sogenannten Lainzer Tunnel, der seit einiger Zeit für Güterverkehr und Hochgeschwindigkeitszüge in Richtung Westen geöffnet wurde. Christian Bunke lädt zu einer kritischen Sicht auf das Großprojekt ein.

Foto: wikipedia commons

«Ich weiß, es gab früher Leute, die sich gegen diesen Tunnel gewehrt haben. Das hat mich damals aber nicht so interessiert», meint er etwas reumütig. Er hat einen mittlerweile über ein Jahr andauernden Schriftverkehr mit verschiedenen Stellen bei den ÖBB. Wenn er nicht gerade wieder an eine andere Stelle verwiesen wird, sagt man ihm, die Lärmmesswerte im Tunnel würden den Vorgaben entsprechen und er könne gar keine Züge hören. Vibrationen dürfe es auch keine geben.

Einer, der damals dabei war, hält das aber durchaus für möglich. Es ist Richard Kuchar, ein Diplomingenieur, der auf Schiffbau spezialisiert ist. «Vibrationen sind wirklich nur sehr schwer in den Griff zu bekommen», meint er. Kuchar gehörte zum harten Kern einer Bürger_inneninitiative, die gegen den Bau des Lainzer Tunnels angekämpft hatte.

Unter anderem war ihm auch ein Dorn im Auge, dass es sich bei diesem auch gerne als Wildschweintunnel bezeichneten Bauwerk um eine einröhrige Struktur handelt. Das hält er bis heute für ein Sicherheitsrisiko, auch weil der Tunnel sowohl für Güter- als auch Personenverkehr verwendet wird. Doch von den ÖBB beauftragte Expert_innen halten bis heute einen zweiröhrigen Tunnel für unnötig.

Der Lainzer Tunnel hängt eng mit dem Wiener Hauptbahnhof zusammen. Und er ist Teil eines europäischen Großprojektes, das Wien unter anderem mit dem umstrittenen Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 in Deutschland verbindet. Sowohl Wien als auch Stuttgart liegen nämlich entlang der sogenannten «Magistrale für Europa».

Hinter diesem klangvollen Namen verbirgt sich ein Konglomerat diverser europäischer Großstädte sowie Industrie- und Handelskammern. Österreich ist neben Wien mit Salzburg und St. Pölten vertreten. Auch die Wirtschaftskammer Salzburg ist an Bord dieser Vision einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Paris und Bratislava beziehungsweise Budapest.

Bei der Magistrale für Europa geht es um Hochgeschwindigkeit. Und vor allem deshalb wurde der Lainzer Tunnel gebaut. Durch ihn und den sogenannten Wienerwaldtunnel ist es für Züge möglich, Wien vom neuen Hauptbahnhof aus Richtung Westen mit einer Spitzengeschwindigkeit von 160 Km/h zu durchqueren. In St. Pölten ist man so schon in 25 Minuten. Außerdem kann man jetzt etwa mit dem ICE aus Richtung Frankfurt am Main direkt zum Wiener Flughafen fahren.

Die Magistrale ist ein Langzeitprojekt. Sie wurde schon 1984 im Rahmen eines Diskussionspapiers des European Round Tables (ERT) aus der Taufe gehoben. Der ERT ist eine Lobbyorganisation europäischer Industriekonzerne, die mit dem «Missing Links» betitelten Papier eine Vision von Fernverbindungen durch ganz Europa entwickelten. Diese Vision war nur mit diversen neuen Tunneln, Bahnhöfen, Gleisanlagen zu realisieren. Natürlich sorgte sich der ERT nur um den Fortschritt in Europa, die durch diese Investitionen zu erwartenden Gewinne für die beteiligten Konzerne sind quasi nur ein Nebeneffekt. Wer’s glaubt …

Zuerst die unzähligen Geschäfte, dann die Gleise

Tatsächlich handelt es sich hier auch um eine strategische Entscheidung, den europäischen Schienenverkehr nicht mehr am Bedarf der Bevölkerung auszurichten. So stellt der deutsche Verkehrsexperte Winfried Wolf fest, dass es 1970 im EU-Raum noch ein Schienennetz mit einer Gesamtlänge von 246.000 Kilometern gab. 2010 waren es nur noch 212.000 Kilometer. In dieser Summe sind die bis dahin erbauten 6000 km Hochgeschwindigkeitsnetz mit berücksichtigt.

Auch in Österreich erleben wir dieses Phänomen. 2009 begannen die ÖBB ein Programm des systematischen Abschieds aus der Fläche. Eingespart wird vor allem im Nahverkehr. Dabei schätzt Wolf, dass gerade hier 90 Prozent aller Bahnfahrten stattfinden. Hochgeschwindigkeitsnetze erfüllen dem gegenüber eher die Bedürfnisse wohlhabender Schichten, etwa von Geschäftsreisenden. Deshalb sind die Anbindungen an Flughäfen auch so wichtig.

Noch etwas stellt Winfried Wolf fest, der übrigens auch in der Bewegung gegen Stuttgart 21 aktiv war. In seinem Buch «Verkehr-Umwelt-Klima» beschreibt er die Umwandlung großer Bahnhöfe von «Gleiswelten mit Geschäftsanschluss» in «Geschäftswelten mit Gleisanschluss». Zugreisende kennen das, man kann es auch im neuen Hauptbahnhof beobachten: Irgendwie muss man gefühlte Ewigkeiten zu Fuß zurücklegen, an unzähligen Geschäften vorbei, bis man irgendwann mal die Gleise sieht.

Jemand wie Leopold S. hilft das alles weniger. «Auf den Infoveranstaltungen hat man uns damals gesagt, wir werden nichts merken. Ich merke aber auf jeden Fall etwas.» Für die Veteranen der damaligen Bürger_inneninitiative dürfte es nur ein schwacher Trost sein, dass sich manche Befürchtungen zu bewahrheiten scheinen.

«Manches haben wir ja doch erreicht», meint Norbert Brandl. «Die Innenschale des Tunnels ist jetzt feuerfester Beton. Das war vorher nicht so geplant.» Doch über den Brandschutz macht er sich immer noch Sorgen. «Im Notfall müssen die Menschen über weit voneinander entfernte Stiegen nach draußen. Vor allem für Menschen, die nicht körperlich fit sind, wird das ein Problem.»

Nicht alle Befürchtungen müssen sich bewahrheiten. Bei Brandschutzübungen in den vergangenen Monaten äußerten sich die Rettungsdienste zufrieden. Doch ein schaler Beigeschmack bleibt.

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