In den 90er-Jahren gab es in Wien fast 1.000 Videotheken – davon haben nur wenige überlebt. Und die älteste Videothek Österreichs befindet sich nicht in Wien, sondern in Kärnten.
TEXT & FOTOS: CHRIS HADERER
Es war im Jahr 1975, als das Kino Beine bekam und über Nacht aufrecht in die Wohnzimmer der Welt wanderte. Irgendwo in der Weite zwischen Stephen Spielbergs Der weiße Hai, dem Schulmädchen-Report, diversen Lauten von diversen Almen und Stanley Kubricks Barry Lyndon eröffnete in der deutschen Stadt Kassel die erste Videothek der Welt. Zumindest wird dieser deutsche Vorsprung vor der amerikanischen Hollywood-Maschine so im britischen Guinness Book of Records dokumentiert. Die VHS-Kassette, ein Kürzel für Video Home System, machte es möglich, Kinofilme in den eigenen vier Wänden anzusehen. Das Fernsehen konnte das zwar auch, aber nur zu bestimmten Zeiten und ohne Mitspracherecht bei der Programmgestaltung. Als Nahversorger für das flimmernde Heimkino diente eine wachsende Videothekenszene: Ende der 80er- und in den 90er-Jahren gab es in Wien an die 1.000 Videoverleihe, mit klingenden Namen wie Alphaville, Dämonia, Videoring oder Videopalast. Ins Heute retten konnten sich nicht einmal ein halbes Dutzend, Pornotheken nicht mitgerechnet – und die älteste Videothek der Alpenrepublik ist nicht in Wien zu finden, sondern in Kärnten. 1985, zehn Jahre nach der deutschen Premiere, eröffnete in Klagenfurt das Bellissimo, in dem heute zwar keine Kassetten mehr verborgt werden, dafür DVDs, Blu-rays und Videospiele.
Videothek mit Lieferservice.
«Ich bin seit dem Jahr 2000 im Bellissimo», sagt Bellissimo-Chef Ingo Kowatsch. «Vor elf Jahren hatte ich die Gelegenheit, die Videothek zu übernehmen – und bereue das keine Sekunde, auch nicht in so schwierigen Zeiten wie jetzt. Das Wichtigste ist die Leidenschaft und die Liebe dazu. Reich wird man damit nicht.» Seit er das Bellissimo leitet, ist der Filmbestand auf etwa 37.000 Stück angewachsen, auf DVD, Blu-ray und 4K. Das Bellissimo ist die letzte Videothek in Klagenfurt; zugleich auch ein Platz, an dem man sich auf einen Kaffee trifft und die Lage der Nation bespricht. Corona habe das Geschäft nicht leichter gemacht, aber zu für Videotheken nicht alltäglichen Angeboten geführt, wie «beispielsweise einem Lieferservice, der sehr gut angekommen ist». Und die normalerweise mit einem Vorhang abgetrennte Schmuddelecke, was ist aus der geworden? «Wir haben zehn Jahre lang keine gehabt, aber da wir die einzige Videothek in Klagenfurt sind, erhielten wir so viele Anfragen, dass wir 15 Quadratmeter dafür geopfert haben.» Trotz einer eher kleinen Klientel wäre es Ingo Kowatsch lieber, wenn er nicht Platzhirsch in Klagenfurt wäre, sondern ein paar Mitbewerber_innen hätte, die auch vom Videogeschäft leben können. Aber das wird es nicht spielen, denn es ist eine Branche, die von allen Seiten überholt wird. Die der Streamingwelt fernere ältere Klientel dünnt sich aus, über den Onlinehandel sind die Datenscheiben relativ billig und schnell zu haben – und so schaut es aus, als hätten Videotheken etwas mit «Tradition» zu tun. Einer Tradition des Filmschauens, der Freude auf ein Erlebnis, das, wenn es auch nicht auf einer großen Leinwand stattfindet, doch hier und jetzt passiert, nur in diesem Moment.
Das Cover als Auswahlkriterium.
«Videotheken waren meine Filmbildung», erinnert sich Michael Loebenstein, damals Kunde und heute Direktor des Österreichischen Filmmuseums in der Albertina. «Ich würde gerne sagen, dass ich auf den Bänken der Kinos groß geworden bin, aber das ist leider nicht so. Ich erinnere mich zwar daran, dass ich viele Disney-Filme in Wiener Kinos gesehen habe, aber so richtig hat sich mir die Filmgeschichte über VHS erschlossen. Wenn ich daran denke, dann weiß ich noch den Geruch in Videotheken, dieses Plastikaroma von den Bändern, den Hüllen und den Kassetten. Das Geräusch, wenn du eine schon leicht verbogene und verdepschte Hülle aufgemacht hast. Und dass man Filme nach Cover ausgewählt hat. Ich bin oft nur durchgegangen und hab mir Filme nach dem Umschlag ausgesucht.»
Für Michael Loebenstein waren Videotheken wichtige Einrichtungen, um «sich einen Querschnitt durch die Filmgeschichte anzueignen. Und natürlich auch über die speziellen Ecken der Filmgeschichte – die es nicht in der Videothek ums Eck gab, also Originalfassungen oder ein spezielles Genresortiment.» Hatte man die Videothek seines Vertrauens gefunden, dann wurde sie zu einem Stammlokal.
Originalversionen und Sondereditionen.
Ein Blick in die Augen des Videothekars, schon zeigte er wortlos Richtung Jess-Franco-Regal: Der Gott des spanischen Exploitation-Films gehörte praktisch zur Grundausstattung; überhaupt waren eine ordentliche Backlist und ein handverlesenes Programm aus Originalversionen und unzensierten Sondereditions die Seele einer guten Videothek. Es gab Expert_innen für jedes Filmgenre: Horror, Film noir, Western, Splatter, Krimi – und einigen wenigen wurde nachgesagt, dass sie eine ungeschnittene Version von George A. Romeros Day of the Dead am Geruch erkennen konnten. Die Backlist einer guten Videothek verstand sich somit auch als Archiv, dass die fehlenden Kader vor dem Verschwinden aus der Filmgeschichte bewahrte – und Filmfans die Möglichkeit gab, in der medial isolierten Alpenrepublik Filme so zu sehen, wie sie vom Regisseur gemeint waren. Heute wird niemand mehr John Boormans Survival-Klassiker Beim Sterben ist jeder der Erste (Deliverance, 1972) in der 109 Minuten langen Kinoversion zu Gesicht bekommen – bei Amazon ist der Abspann schon nach 95 Minuten zu Ende.
Achteinhalb im Neunten.
Gegen Ende der 90er-Jahre kam die DVD als neuer Sheriff nach Tinseltown, dann die Blu-ray, dann länger nichts und dann Netflix. In der ersten Hälfte des neuen Jahrtausends war der langsame Untergang der klassischen Videothek praktisch vorprogrammiert: Einerseits wurden DVDs immer preiswerter, andererseits begann das TV-Angebot via Kabel- und Satellitenfernsehen ungebremst zu wuchern. Netflix ging in den USA ursprünglich als DVD-Verleih an den Start, bevor das Unternehmen als Streaminganbieter an der Konkurrenz vorbeizog und den Markt neu aufrollte. Heute ist die Spezialisierung auf Titel, die nicht in der Cloud umherflirren, eine Überlebenschance für die noch verbliebenen Videoverleiher_innen. Eine davon ist die 2004 gegründete und im neunten Bezirk beheimatete Filmgalerie Achteinhalb, die, so Petra Forstner, ihr Augenmerk auf Arthouse und fremdsprachige Filme legt: «Von Anfang an war der Hintergrund, dass wir Filmkultur und Filmgeschichte niederschwellig zugänglich machen wollten. Unser Sortiment reicht deshalb von Stummfilmklassikern über Arthouse-Filme, Nouvelle Vague, Neorealismus bis eben Neuerscheinungen. Auch Raritäten gibt es.» Beratung ist alles. «Es ist der Anspruch, Film auch zu vermitteln», sagt Petra Forstner. «Die Leute spüren, dass wir Filme lieben und auch Ahnung von der Filmgeschichte haben.»
Maximale Breitenwirkung im Zehnten.
Am Ende der Favoritenstraße, kurz vor dem Verteilerkreis, betreibt Paul Pawlek die VTC-Videothek. Im Vorleben schoss Pawlek Rapid Wien als Stürmer aufs Siegerpodest des ÖFB-Cups 1975/76. Heute setzt er auf maximale Breitenwirkung und bietet in seiner Videothek praktisch alles vom familienfreundlichen Klassiker über Neuerscheinungen und Videogames bis zum Hardcore. «Wir haben vor über 15 Jahren begonnen und hatten einmal acht Filialen», erklärt er. Daraus wurde letztlich die jetzige VTC-Videothek. Pawlek machte sich schon während seiner aktiven Fußballerzeit selbstständig und kam über einen Bekannten in die Verleihbranche. Bereut hat er es trotz Videothekensterbens «bis heute nicht. Ich mache das gerne, es ist ein schöner Job, auch wenn es manchmal ein bisschen mühsam ist.» Als Überlebensstrategie setzt Pawlek auf sein knapp 40.000 Titel großes Sortiment: «Da ist für jeden Geschmack etwas dabei.»
Band vs. Stream.
«Der Verlust von Videotheken als Nahversorger ist etwas, worüber man erst in vielen Jahren nachdenken wird: darüber, was da radikal anders geworden ist», meint Michael Loebenstein. «Natürlich könnte man sagen, damals haben sich Leute die Bandeln ausgeborgt und allein angeschaut, heue sitzen sie allein vor dem Computer und streamen. Aber das ist nicht das Gleiche: Man hat anders ausgewählt, es war ein anderer Begegnungsort, man hat andere Expertisen eingeholt.» Die Videothek als Sozialeinrichtung, ein Überbleibsel aus den 1980er- und 90er-Jahren, als Covid-19 noch nicht erfunden war? «Wir sind auch ein Anlaufpunkt, wenn es gar nicht um Film geht», sagt Ingo Kowatsch. Wenn nicht gerade Lockdown ist, treffen sich auf der Bank vor dem Bellissimo «Leute vom Anwalt bis zum Arbeitslosen. Es ist schön für mich zu sehen, dass die Leute auf einmal über Dinge zu reden beginnen, über die sie sonst nicht miteinander gesprochen hätten.»