Lokalmatador
Markus Drechsler hilft Menschen in Haft. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie’s ihnen geht. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto).
Er bittet uns ins Wohnzimmer seiner neuen Wohnung. Dort stellt Markus Drechsler zufrieden fest: «Seit meiner Entlassung vor zwei Jahren ist mir viel gelungen.»
In der Tat: Der IT-Experte übt wieder seinen Beruf aus, lebt wieder mit einer Frau zusammen (mit ihr ist er an den Rand der Seestadt gezogen). Ihre Kinder und seine Tochter respektieren ihn; auch seine besten Freund_innen haben nie an ihm gezweifelt. Er studiert nebenbei Jus. Und einen Hund hat er jetzt auch.
Das ist außergewöhnlich für einen, der insgesamt sechs Jahre lang «weg» war (ein Jahr U-Haft in der Justizanstalt Josefstadt, vier Jahre «Maßnahmenvollzug» in der Justizanstalt Mittersteig, zuletzt ein Jahr in der Justizanstalt Floridsdorf). Der im Häf’n eine herbe Enttäuschung nach der anderen hinnehmen musste.
Er hat die Republik Österreich geklagt: «wegen ungerechtfertigter Anhaltung im Maßnahmenvollzug». Weil noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, kann er heute nur so viel sagen: «Ich habe die Tat, die mir zur Last gelegt wird, nicht begangen. Ich bin dennoch froh, dass ich am Ende entlassen wurde.»
Maßnahmenvollzug? Im Jurist_innendeutsch auch «eine mit Freiheitsentzug verbundene Maßnahme» genannt. Sie wurde unter Justizminister Christian Broda eingeführt. Die Idee dahinter: Straftäter_innen, die laut Gerichtsurteil als gefährlich für die Allgemeinheit gelten, sollen hinter Gittern therapiert werden.
Im Justizministerium zählt man aktuell 856 Häftlinge, über die eine Maßnahme verhängt wurde. In den Gefängnissen sind sie somit eine Minderheit.
Drechslers Dilemma: «Ich wollte mich nicht für etwas verantworten, was ich nicht getan habe.» Was er jedoch erst mit der Zeit durchblickte: «Solange ein Gutachter zu dem Schluss gelangt, dass du aufgrund deiner Weigerung, die Tat zu gestehen, ein zu großes Risiko für die Gesellschaft darstellst, bleibst du im Gefängnis.»
Der 43-jährige Wiener könnte sich heute beim Blick aus einem Fenster ohne Gitterstäbe, auf ein freies Feld neben der Seestadt, sagen: Die sechs Jahre Hölle habe ich hinter mich gebracht, dafür werde ich jetzt hoffentlich entschädigt. Das sagt er sich auch. Aber darüber hinaus führt er den von ihm ins Leben gerufenen Verein SiM fort. SiM steht für die etwas ungelenke Wortkette «Selbst- und Interessenvertretung zum Maßnahmenvollzug» und zählt inzwischen 40 ehrenamtliche Mitarbeiter_innen.
«Wir sind eine Anlaufstelle für Untergebrachte und Entlassene, auch für Angehörige, Rechtsanwält_innen, Sozialarbeiter_innen und Student_innen», erklärt der Obmann. Weil er selbst über seine Rechte und Pflichten lange nicht Bescheid wusste, möchte er sein nicht freiwillig erworbenes Wissen an andere weitergeben. «Ich will unserem Anliegen eine Stimme und ein Gesicht geben. Mit dem Ziel, für alle Seiten mehr Transparenz in die Verfahren zu bringen und manche falsche Hoffung erst gar nicht aufkommen zu lassen.»
Vor allem die jährlichen Anhörungen vor Gericht sollten für alle Beteiligten als Chance begriffen werden. «Oft», weiß Markus Drechsler aus eigener Erfahrung und aus unzähligen Gesprächen mit Häftlingen, «werden sie im Fünf-Minuten-Stakkato durchgezogen».
Rechtsanwält_innen, die SiM ihre Expertise zur Verfügung stellen, machen darauf aufmerksam: Wenn Untergebrachte auf die richterliche Frage «Ist eh alles gut bei Ihnen?» mit einem knappen «Ja» antworten (unwissend oder resignierend), stimmen sie einem weiteren Jahr im Gefängnis zu. «Dabei hätten sie bei der Anhörung alle Rechte wie in einer Hauptverhandlung», betont der angehende Jurist.
Neue Vertraute.
Markus Drechsler hat dank seiner Vereinsarbeit neue Vertraute kennen gelernt, gleichzeitig hat er sich im Justizapparat nicht nur Freund_innen gemacht. Und man kann sich das leicht ausmalen: Ein System, das nicht gewohnt ist, von außen beobachtet, kommentiert und kritisiert zu werden, reagiert sehr sensibel auf die sich plötzlich aufbauende öffentliche Kulisse.
Der Systemkritiker lässt sich jedoch nicht beirren: «Ich möchte jenen Menschen Mut machen, die zu Unrecht mit einer Maßnahme konfrontiert sind, für die ein Comeback in der Freiheit verunmöglicht wird.» Er erklärt ihnen auch: «Als ich bemerkt habe, dass mir drinnen niemand hilft, habe ich begonnen, Fragen zu stellen. Dadurch wurde ich sicherlich zu einem Unbequemen, aber irgendwie konnte ich mich so auch befreien.»
Dann erzählt er von einem Mann, der wegen kleinerer Delikte seit 39 Jahren in Göllersdorf einsitzt. 39 Jahre blieben ihm erspart, allerdings: Könnte die Republik seine sechs Jahre im Gefängnis wieder gutmachen? Könnte sie natürlich nicht. Ungerechtfertigter Freiheitsentzug lässt sich nicht mit einer Summe X abgelten. Er erinnert sich: «Ich war die ganze Zeit über fremdbestimmt. Selbst zum Öffnen einer Tür brauchte ich einen Beamten.»
Ein Urteil, das seine Unschuld bekräftigt, könnte immerhin den Makel in seinem Lebenslauf löschen. Auch wenn dies für seinen angestrebten Beruf in einer internationalen Menschenrechtsorganisation unwesentlich sein dürfte, für ihn persönlich wäre so ein Spruch sehr wohl von Bedeutung.
Mehr über den Verein SiM:
www.massnahmenvollzug.org