Viel zu verlieren, alles zu gewinnentun & lassen

Brexit. Die Sparpolitik vergangener Jahrzehnte hat in Großbritannien die Tür für den Brexit geöffnet. Gleichzeitig wachsen mit dem Labour-Parteichef Jeremy Corbyn die Chancen für eine linke Regierungsmehrheit. Von Christian Bunke

Foto: Gary Knight  (Mehr als den Brexit fürchten die Konservativen nur ihn: Jeremy Corbyn. 2016 – mit Tariq Ali im Hintergrund – auf einer Kundgebung gegen das

britische Nuklearwaffenprogramm Trident.)

Großbritannien durchlebt gerade die schwerste Staatskrise seit langem. Der nahende Brexit droht nicht nur die britische Parteienlandschaft, sondern auch das Vereinigte Königreich an sich zu zerfetzen. Dabei hatte der ehemalige Premierminister David Cameron eigentlich nur einen Streit in seiner Konservativen Partei beilegen wollen, als er der Durchführung des im Jahr 2016 abgehaltenen Referendums über einen Austritt aus der EU zustimmte. Passiert ist das Gegenteil. Die Tories sind zerstritten wie noch nie und stehen kurz vor einer Parteispaltung. Was die Partei noch zusammenhält, ist die Angst vor Jeremy Corbyn von der oppositionellen Labour Party.

Sozialer Kahlschlag.

Wie es dazu kommen konnte? Man braucht nur vor die Tür des britischen Parlamentsgebäudes zu gehen, um die realen Ursachen für die Krise Britanniens zu erfassen. Meter um Meter säumen dort schlafende Obdachlose den Weg. Seit der Finanzkrise von 2008 und der nach der Rettung der Großbanken begonnenen Spar- und Kahlschlagspolitik hat sich die Obdachlosigkeit dramatisch erhöht. Derzeit sind 120.000 Kinder in Großbritannien wohnungslos. 80.000 Familien wissen nicht, ob sie im kommenden Monat ein Dach über dem Kopf haben werden.

Im Dezember 2018 kritisierte ein UN-Bericht die britische Sozialpolitik als «bewusst unmenschlich». 4,5 Millionen Kinder kriegen von ihren Eltern nicht genug zu essen, weil das Geld dafür fehlt. Die große Mehrheit dieser Eltern geht einer Lohnarbeit nach. Jahrzehnte des Neoliberalismus haben das Land zugrunde gerichtet. Die Infrastruktur ist privatisiert, marode und für Endverbraucher nicht leistbar. Die Menschen arbeiten 60 bis 80 Stunden in der Woche und müssen dafür unsichere Arbeitsbedingungen akzeptieren.

Gegen all das.

Es stimmt, die Abstimmung über den Verbleib Britanniens in der EU war auch getrieben von rassistischer Demagogie. Der ehemalige Außenminister Boris Johnson behauptete etwa, dass die EU «Millionen Türken» nach Großbritannien schleusen wolle. Die mittlerweile nahezu unbedeutende bürgerliche Rechtsaußen-Partei UKIP, United Kingdom Independence Party, trug das Ihre dazu bei. Dazu kam der Mord an der Labour-Politikerin Jo Cox während des Referendumswahlkampfes durch einen Neonazi. Doch all das ist nur die halbe Wahrheit. Für viele Menschen war eine Stimme für den Brexit die willkommene Möglichkeit, um zu sagen: «Es reicht!» Das Ja zum Austritt aus der EU war auch eine Revolte gegen die Verwüstungen der Austeritätspolitik, die im besten Einklang mit der neoliberalen Nach-Krisen-Politik der EU stand.

Einer, der auch gegen «all das» steht, ist Labour-Parteichef Jeremy Corbyn. In einer Anfang Jänner gehaltenen Rede sagte er, die Grenze im Land verlaufe nicht zwischen den Befürworter_innen und Gegner_innen des Brexit. Die wirklich wichtige Spaltung verlaufe zwischen der Bevölkerungsmehrheit am unteren Ende der Gesellschaft und der kleinen, reichen und mächtigen Minderheit an der Spitze. Und: Es sei höchste Zeit, dass nun endlich eine Politik für die Mehrheit der Menschen gemacht werde. Deshalb brauche es Neuwahlen und kein neues Brexit-Referendum, wie es viele Liberale in Großbritannien und Europa zuletzt gefordert haben.

Abkehr von der «Mitte».

Corbyn ist seit Jahrzehnten in der britischen linken Szene aktiv. Seit den frühen 1980er-Jahren unterstützt er die LGBTQ-Bewegung. Seine Großeltern waren an der «Battle of Cable-Street» beteiligt, während der sich Zehntausende einem Nazi-Aufmarsch in den Weg stellten. Auch heute befürwortet Corbyn solche Massenaktionen. Er wurde auf Demos gegen die Apartheid in Südafrika verhaftet und war gegen den von George Bush und Tony Blair geführten Irakkrieg. Und er gilt als vehementer Gegner des britischen Nuklearwaffenprogramms Trident.

Seit Beginn seiner Amtszeit als Parteichef im Jahr 2015 stehen die Neoliberalen in der Labour-Partei daher zunehmend unter Druck. Das aktuelle Wahlprogramm sieht die Verstaatlichung von Eisenbahnen, Strom- und Wasserversorgung vor. Antigewerkschaftsgesetze will Corbyn abschaffen. Gleichzeitig fordert er eine umfassende Demokratisierung der britischen Gesellschaft. Corbyn repräsentiert die Abkehr von dem Dogma, dass Sozialdemokrat_innen sich an der «Mitte» der Gesellschaft orientieren müssen, um an der Wahlurne erfolgreich zu sein. Die Demoskop_innen geben ihm bislang jedenfalls Recht. Fünf von sechs britischen Meinungsforschungsinstituten prognostizieren einen Labour-Wahlsieg, wären kommende Woche Neuwahlen.

Regelnehmer ohne Einfluss.

Und doch ist die Brexit-Frage auch für Corbyn problematisch. Dafür muss man sich zunächst mit dem Inhalt des zwischen der britischen Regierung und der EU ausgehandelten Austrittsabkommens auseinandersetzen. Dieses fordert von Großbritannien, sich während einer Übergangszeit den Regeln der EU zu unterwerfen. Großbritannien würde dann zu einem «Regelnehmer» ohne Einflussmöglichkeit auf die Regeln. Außerdem soll laut Vertrag zwischen Nordirland und der Republik Irland eine Zollunion gegründet werden. Das bedeutet, dass Nordirland zwar zur EU-Außengrenze, letztendlich aber nicht wie eine solche behandelt würde. Die «echte» Außengrenze verliefe stattdessen quasi im Meer zwischen der irischen und der britischen Insel.

Dadurch könnte eine Situation entstehen, in der Nordirland enger an die Republik Irland heranrückt, sich gleichzeitig aber vom Rest Großbritanniens entfremdet. Für die Unionist_innen von der Democratic Unionist Party, mit der die regierenden Tories ein Tolerierungsabkommen haben, ist dies undenkbar. Andererseits versucht das republikanische Lager rund um Sinn Féin Kapital aus der Situation zu schlagen und über den Brexit einen Zusammenschluss Nordirlands mit der Republik Irland vorzubereiten. Ein Wiederaufflammen des jahrzehntelangen Konflikts um die grüne Insel ist damit jedenfalls nicht auszuschließen.

Gute Gründe.

Weil Großbritannien auch nach Vollzug des EU-Austritts laut Vertragsentwurf bis auf weiteres an das EU-Regelwerk gebunden bliebe, hätte dies auch Auswirkungen auf linke Politikentwürfe. Würde Corbyn etwa die Eisenbahnverstaatlichung umsetzen wollen, könnte die EU ihr Veto einlegen. Ähnliches gilt für den Fall, dass eine britische Regierung kriselnde britische Industrien mit staatlichen Geldern fördern möchte. Das Corbyn´sche Wirtschaftsprogramm sieht aber genau das vor. Er plant außerdem die Einrichtung einer staatlichen Investitionsbank für den Aufbau öffentlicher Infrastruktur sowie generell eine durch Reichensteuern finanzierte Erhöhung der Staatsausgaben. Auch hier ist davon auszugehen, dass die EU alle Möglichkeiten des Austrittsvertrages nutzen würde, um den Politikwechsel auf der Insel zu verhindern. Ist der Austrittsvertrag einmal ratifiziert, kann er nicht mehr einseitig zurückgenommen werden. Das sind gute Gründe für Corbyn und seine Mitstreiter_innen, den EU-Austrittsvertrag abzulehnen.

Freundschaftlicher Druck.

Sollten Neuwahlen eine Labour-Regierung an die Regierung spülen, würde sie jedoch auch mit ihren eigenen Widersprüchen konfrontiert werden. Labour propagiert eine Zollunion zwischen Großbritannien und der EU, sowie ein möglichst enges Verhältnis zum europäischen Binnenmarkt. Auch hier, davon ist zumindest auszugehen, wird die EU darauf pochen, dass der einzige Weg dorthin über das bereits ausgehandelte Abkommen führt – oder eben über den Verbleib Großbritanniens in der EU. Eine von Corbyn geführte Labour-Regierung würde so ziemlich schnell mit der neoliberalen Grunddoktrin der EU konfrontiert werden. Letztendlich wird hier ausschlaggebend sein, inwieweit britische Gewerkschaften und linke Kräfte bereit sind, für einen Politikwechsel auf die Straße zu gehen, um ein Einknicken der Regierung zu verhindern. Freundschaftlicher Druck wird auf jeden Fall nötig sein.

Nicht alle innerhalb der Labour-Partei befürworten die von Corbyn angestrebten Neuwahlen. Vor allem in der Parlamentsfraktion ist das blairistische, neoliberale Lager immer noch stark. Dieses Lager strebt ein zweites EU-Referendum an. Tatsächlich ist Labour in der EU-Frage gespalten, wenn es auch für ein neues Referendum weder in der Parlamentsfraktion noch in der Mitgliedschaft eine Mehrheit gibt. In den meisten von der Labour-Partei kontrollierten Wahlkreisen wurde für den Brexit gestimmt, auch wenn es hier natürlich Ausnahmen gibt. Diese Menschen, sie leben überwiegend in von der Austeritätspolitik besonders getroffenen Regionen, würden in einem neuen Referendum den Versuch «des Establishments» sehen, eine demokratische Entscheidung rückgängig zu machen. Jeremy Corbyn hat in dieser Situation viel zu verlieren, kann aber auch – wenn er sich taktisch klug verhält – alles gewinnen.