Viele Säulen stützen einen Menschentun & lassen

Das Vinzirast-Mittendrin-Haus in der Währinger Straße wird im kommenden Frühjahr eröffnet

Anfangs war es eine verrückte Idee, geboren aus der «Uni brennt»-Bewegung: Studierende und Obdachlose lernen und wohnen gemeinsam. Dann schrieb ein Student dem Bauunternehmer Hans Peter Haselsteiner ein E-Mail, der kaufte ein Haus, und das Vinzirast-Team um Cecily Corti realisiert das Projekt. Wie essenziell die Hilfe einer Gemeinschaft ist, hat der alkoholkranke Markus Michelbacher erlebt.

Im ärgsten Suff wähnte sich Markus Michelbacher mit magischen Kräften ausgestattet. «Ich habe geglaubt, ich kann durch Wände gehen. Wie Chuck Norris. Ich bin mit dem Kopf gegen die Wand gerannt.» Er meinte, er könne ein dickes Glas mit der Hand durchschlagen. Jemand hatte ihn dazu angestachelt und einen Doppler als Belohnung versprochen. «Ich schlug zu. Wie Karate Kid. Da hat das Blut nur so gespritzt, ich wäre fast verblutet.»

 

Doch selbst im ärgsten Suff wusste er, wo er die beste Hilfe bekommen würde: auf der Psychiatrieabteilung des Otto-Wagner-Spitals. Mit voller Absicht spielte er den irren Besoffenen. Er ritzte sich blutig, auf der Straße, vor Polizisten. «Der ist ja deppert!», sagten dann die Polizisten und verfrachteten ihn auf die Baumgartner Höhe. Dort wurde er in ein Gitterbett gesperrt. Das war ihm lieber als in einer normalen Spitalsambulanz zu landen. «Dort geben sie einem nur eine Infusion, nach ein paar Stunden steht man wieder auf der Straße.»

 

Heute steht Markus in einer Werkstatt. Er fixiert eine ausrangierte Sperrholz-Obstkiste in einer Hobelbank, auf der Querseite ist «Il Vecchio Casale» aufgedruckt. Mit Schraubenzieher und Zange löst er die metallenen Klammern, die die Kiste zusammenhalten. Er hebt das Brettchen mit der Aufschrift ab und wirft es in eine Schachtel, in der schon weitere Bretter liegen: Toscan-Frutta ist zu lesen, und Asia fruttaltedo.

 

Die gesammelten Obstkistenteile werden demnächst ein zweites Leben erhalten: als Wanddekoration in einem Beisl. Es ist die Idee des Architekten Alexander Hagner. Kreativ, edel und billig, so soll das Vinzi-Beisl werden. So wie das ganze Haus in der Währinger Straße 19, dessen Sanierung er seit zwei Jahren plant. Viele Bauherren knausern mit Geld, aber bei diesem Haus ist klar, warum. Die Bauherrin ist Cecily Corti, Obfrau von Vinzirast, einer Notschlafstelle für Obdachlose in Wien Meidling.

 

«Das Haus hat uns Hans Peter Haselsteiner geschenkt», sagt Cecily Corti. «Doch für die Sanierung wollen wir selber aufkommen. Dafür brauchen wir Spenden. Viele Spenden.»

 

Das neue Haus heißt Vinzirast-Mittendrin. Vinzi mitten in der Stadt, mitten in der Gesellschaft, das ist die Botschaft. Es ist ein Projekt, das es in dieser Form noch nirgendwo gibt. Hier werden ehemals obdachlose und alkoholkranke Menschen gemeinsam mit Studenten und Studentinnen in einem Haus wohnen, kochen, essen, arbeiten, lernen, was auch immer.

 

Architektur soll Gemeinschaft fördern

Noch ist das Haus eine Baustelle, aber die Wände stehen und machen das von Alexander Hagner und dem Vinzirast-Team entwickelte Konzept sichtbar. Im Erdgeschoss ist das Beisl. Es soll ein Ort der Begegnung werden. Da kommt es Hagner gerade recht, dass das alte Biedermeierhaus mit den Nachbarhäusern keine gerade Fassade bildet, sondern sich auf dem Gehsteig breitmacht. Dort, wo Passant_innen eine Kurve ums Haus machen müssen, wird sie bald eine Glastür einladen, direkt ins Lokal zu marschieren und an der langen Bar eine Verschnaufpause zu machen, bevor sie ihren Weg durch die zweite Glastür fortsetzen. Im Sommer, wenn die beiden Türen offen sind, werden Lokal und Gehsteig eins sein. «Das ist ideal, um Berührungsängste abzubauen», sagt Hagner. Man könne sich zwanglos an die Bar stellen, einen Espresso trinken und herumschauen.

 

Auf den drei Stockwerken darüber wird gewohnt. Pro Stockwerk wird es drei Wohngemeinschaften geben, mit je drei Zimmern pro WG. Drei mal drei mal drei, das ergibt 27 Bewohner_innen. Die Zimmer sind klein, und in den Wohnungen gibt es nur eine Teeküche. Als Ausgleich hat jedes Stockwerk eine große Gemeinschaftsküche und ein Wohnzimmer. «Das soll animieren, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen.» Im obersten Geschoss bricht überhaupt der Luxus aus: ein Penthouse, mit Dachgarten und einem großen offenen Raum für Yoga, Federballspielen oder was auch immer. Wie sich das Zusammenleben gestalten wird, ist ein großes Experiment. Das Ziel ist, dass alle Bewohner_innen voneinander lernen und miteinander Veranwortung tragen. «Wenn die Studierenden in die Semesterferien gehen, müssen sich die Ex-Obdachlosen um die Pflanzen kümmern, sonst gehen sie ein», sagt Hagner. «Wir haben das Haus so angelegt, dass man viel miteinander tun kann, wir haben dazu die Räume geschaffen: eine Bibliothek, Werkstätten, Garten. Ob es funktionieren wird, weiß ich nicht.» Weltweit gebe es kein vergleichbares Projekt, wo Studierende und Ex-Obdachlose gemeinsam leben.

 

Doch es gab bereits eine Zeit und einen Ort, wo Studierende und Obdachlose unter einem Dach lebten wenn auch ungeplant. Dort wurde die Idee geboren, die schließlich zum Vinzirast-Mittendrin-Haus führte. Es war in der Zeit der «Uni brennt»-Bewegung im Herbst 2009, als Studierende das Audimax der Universität Wien zwei Monate lang besetzt hielten. Was als spontaner Zornesausbruch über das Bologna-Studiensystem an der Universität für bildende Künste begann, wuchs an der Universität Wien zur größten studentischen Protestbewegung, die es in Wien je gegeben hatte. Zeitweise schwappte der Protest auf halb Europa über. Ab 24. Oktober 2009 war das Audimax der Uni Wien besetzt, tagelang wurde diskutiert, abends gab es Konzerte, und nachts schliefen die Besetzer_innen Schlafsack an Schlafsack. Da fiel es anfangs nicht so auf, dass auch Obdachlose im Audimax waren. Erst nach einigen Wochen, als viele Studierende schon wieder wegblieben, die Obdachlosen aber blieben, wurde es evident. Das brachte Herausforderungen mit sich. «Es waren Probleme, mit denen normale Studierende nur selten konfrontiert sind», sagt Nicole Kornherr, damals Politikwissenschaftsstudentin und Aktivistin der ersten Stunde. «Alkoholismus, Gewalt, auch sexuelle Gewalt, Beschaffungskriminalität.» Da die Audimaxisten für alles eine Arbeitsgruppe gründeten, gab es auch bald eine zu «prekären Lebenswelten». Und da auch das Audimax ein prekärer Lebensort war, suchte die Arbeitsgruppe nach Alternativen für die überwiegend ausländischen Obdachlosen. Und lernte dabei, dass in den meisten Notschlafstellen Ausländer_innen keinen Zutritt haben.

 

Obdachloser Pianist im Audimax

Es kam zu Konflikten, Streit, Schlägereien. «Aber das sollte nicht überschatten, wie schön das Zusammenleben war», sagt Nicole Kornherr. «Es gab wohnungslose Menschen, die beim Putzen geholfen haben, die mitgekocht haben in der Volxküche. Wir hatten einen ganz tollen wohnungslosen Menschen, den Raffael. Er hat auf dem Flügel, der im Audimax stand, oft die ganze Nacht hindurch Klavier gespielt.»

 

Es muss wohl so eine Nacht der Euphorie gewesen sein, in der Peter Nitsche damals Anglistikstudent mit einer Kollegin heimspazierte, die Währinger Straße entlang. Vor den leeren Auslagenfenstern eines ehemaligen Kinderwagengeschäfts blieben sie stehen. Das ganze Haus stand offensichtlich leer. Durch eine Öffnung kamen sie hinein, wanderten umher und waren begeistert. Das wäre der Platz für die Vision, die sie bereits gesponnen hatten, für ein gemeinsames Lernen und Arbeiten von Studierenden und Obdachlosen, die einander helfen und inspirieren könnten. Man müsste das Haus besetzen, meinte die Studentin. Nein, da müsse es eine andere, dauerhafte Lösung geben, sagte Peter Nitsche. Er ging nach Hause, redete mit seiner Freundin über die Sache, legte sich auf die Couch, dämmerte vor sich hin. Plötzlich fuhr er hoch. Der Haselsteiner. Der unterstützt doch die Ute Bock, den Pater Sporschill, die Cecily Corti, der zahlt doch für soziale Projekte. Mitten in der Nacht stand er auf, schaltete den Computer ein und schrieb ein E-Mail an Hans Peter Haselsteiner, dem Dritteleigentümer des Baukonzerns Strabag. Er schrieb von den gemeinsamen Aktivitäten der Studierenden und Obdachlosen, und wie sehr die Menschen an Selbstwert gewinnen, wenn sie spüren, dass sie gebraucht werden. Und da gäbe es ein Haus

 

Eine Woche später erhielt er eine Antwort. Er möge sich an Cecily Corti wenden. Gleich darauf rief sie an. Er möge doch zu ihr kommen. Haselsteiner hatte das E-Mail an Frau Corti weitergeleitet, mit der Bitte, das Ansinnen der Studenten zu prüfen. Haselsteiner ist seit 2007 eng mit der Vinzirast verbunden. Damals hatte Cecily Corti Sponsoren gesucht, die sie bei der Sanierung des Vinzirast-Hauses in der Wilhelmstraße in Wien Meidling unterstützten würden. Über Vermittlung von Freunden traf sie Haselsteiner. «Ich habe ihm erzählt, wie das Ganze entstanden ist, wo wir jetzt sind, was mein Vorhaben ist. Nach kurzer Zeit hat er gesagt: Das gefällt mir, das mache ich.» Daraufhin hat die Strabag innerhalb von neun Monaten das Haus renoviert, ein Stockwerk draufgesetzt und den Dachboden ausgebaut.

 

Cecily Corti traf also Peter Nitsche und fand die Idee eines Hauses für Obdachlose und Studierende mitten in der Stadt großartig. So kaufte Haselsteiner das Haus und schenkte es der Vinzirast. Dann gab es wieder eine Arbeitsgruppe. Nur ging es diesmal nicht um prekäre Lebenswelten, sondern um deren Milderung mithilfe eines konkreten Hauses. Ob daraus eine visionäre Sozialarbeit entsteht oder das Konzept irgendwann als sozialromantische Phantasie zerrinnt, wird sich im Zusammenleben zeigen.

 

Die Hoffnung lebt jedenfalls. «Die Vinzirast basiert auf der Idee, dass eine soziale Gemeinschaft Welten verändern kann», sagt Architekt Alexander Hagner. «Dass durch Gemeinschaft Dinge entstehen, die nie entstehen würden, wenn es sie nicht gäbe.»

 

Ora na-azu nwa

Ora na-azu nwa. Das ist ein Sprichwort in Igbo, einer in Nigeria gesprochenen Sprache, und heißt etwa: Es braucht eine Gemeinschaft, um ein Kind zu erziehen. Hillary Rodham Clinton hat 1996, damals als First Lady, den Spruch als Titel ihres Buches «It Takes a Village» popularisiert.

 

Es braucht eine Gemeinschaft, um einen Menschen aus dem Abgrund herauszuholen. Das hat Markus Michelbacher erfahren. Im Herbst 2009, als im Audimax Studiosi und Obdachlose fraternisierten, erntete er Melanzani, siebte die neue Erde aus dem Biomüllhaufen und machte Küchendienst. Er war auf Schloss Weisspriach, einem Therapiezentrum in der Buckligen Welt. Eine Sozialarbeiterin im Otto-Wagner-Spital hatte ihm zu einer einjährigen Arbeitstherapie auf dem Land geraten. Doch nach vier Monaten haute er den Hut drauf und fuhr zurück nach Wien. «Mein erster Weg war zum Bahnhof in Wr. Neustadt. Dort habe ich mir eine Flasche Whiskey gekauft.» Er wusste, wohin er wollte: zurück zu seiner «Mama», der Sozialarbeiterin im Otto-Wagner-Spital, zu der Markus eine besonders enge Beziehung aufgebaut hat. Nach ein paar Tagen Suff war er wieder dort. Ein neuerlicher Anlauf: Entzug, Therapie, diesmal in Kalksburg. Nach zwei Monaten war er entlassen, erhielt eine Wohnung in Wien, «und dann habe ich ein bis zwei Wochen wieder die Sau rausgelassen». Wieder ein Anruf bei der «Mama», wieder im Otto-Wagner-Spital, wieder kümmerten sich engagierte Leute um ihn. «Ein Türl nach dem anderen ist aufgegangen», sagt Markus. Und dann schafft er es endlich: Seit dem 27. März 2010 ist er trocken. Eine Zeitlang lebte er in einer Wohngemeinschaft der Vinzirast, in der ehemalige Alkoholkranke sich gegenseitig stützen sollen.

 

Auf viele Säulen stützt sich Markus in seinem neuen Leben: auf die Sozialarbeiterin Petra Weilguny, den Caritas-Sozialpädagogen Christian Wetschka, die Quartiergeberin Cecily Corti und ihr Team, auf einen Suchtexperten am AKH und einen Therapeuten im Otto-Wagner-Spital. Und auf seine Arbeit bei der Caritas und im Vinzirast-Mittendrin-Haus. Das Haus kennt er bereits in- und auswendig. Vor einem Jahr hat er mitgeholfen, es vor der Sanierung durch die Baufirma zu entkernen: alte Türstöcke rausreißen, Fliesen rausstemmen, die Dachziegel abnehmen und aufschlichten sie werden als Fußbodenziegel für die Werkstätten wiederverwendet. Meist war es eine Partie von vier Männern, Bewohner der Vinzirast, die unter Anleitung von Alexander Hagner arbeiteten: Christoph, Charly, Markus und Walter. Ein Jahr später sind Christoph und Charly tot gestorben an den gesundheitlichen Folgen ihrer Süchte. «Für mich war das ein Wendepunkt in meiner Arbeit», sagt Alexander Hagner. Er schluckt Tränen hinunter, bevor er weiterredet. «Ich hab am Anfang auch gedacht, was wir hier tun, das ist gut, das hilft. Aber dass wir an einem Punkt ansetzen, wo es um die schiere Existenz geht » Er habe noch selten einen Bautrupp gehabt, der so verantwortungsbewusst war. «Sie waren nicht schnell, aber doch produktiv. Nichts musste ein zweites Mal gemacht werden. Und die Baustelle sah picobello aus.»

 

Noch ist nicht klar, wer in das Vinzirast-Mittendrin-Haus einziehen wird. Sozialarbeiterisch interessierte Student_innen? Sozial gefestigte ehemalige Alkoholkranke? Das Vinzirast-Team wird entscheiden, wer von den betreuten Menschen schon so weit ist, möglichen studentischen Trinkgelagen standzuhalten. Bei der Auswahl der Studierenden werden interessierte Professor_innen eingebunden. Es sollen Menschen sein, die an Menschen Interesse haben. Das Haus ist jedenfalls ein guter Boden für therapeutisches Heilen. Eine Recherche zu seiner Geschichte hat ergeben, dass es im 19. Jahrhundert hier ein Kaffeehaus gab, das Sigmund Freud auf seinen Wegen zwischen Universität und Berggasse häufig frequentierte.