In Wien wurde kürzlich ein Haus besetzt. Die Aktivist:innen hatten langfristige Pläne, doch am 1. Mai wurde das Haus von der Polizei geräumt.
Von außen sieht es sehr schmuck aus, das Haus in der Harmoniegasse Nr. 10 im Servitenviertel im Alsergrund. Die Harmoniegasse ist eine gehobene Adresse in der Stadt. Das Hotel Harmonie ist hier zum Beispiel zu finden, ein preisgekröntes «Boutique-Hotel» der edleren Art. Doch wie so oft tun sich hinter glänzenden Fassaden Abgründe auf. Einen ersten Hinweis geben Transparente, die an den Fenstern der Hausnummer 10 aufgehängt sind: «Leerstand ist zum Speiben – wir bleiben» ist dort in weißer Schrift auf schwarzem Stoff zu lesen. Seit Mitte April sind hier Hausbesetzer:innen eingezogen. Ihre Präsenz macht sichtbar, was sonst verborgen bliebe – die Harmoniegasse 10 steht zu großen Teilen leer, seit Jahrzehnten. Während das Haus von außen frisch saniert erstrahlt, bröckelt drinnen der Putz und hat sich Nässe in den Wänden eingenistet. Kurz: Es gibt Sanierungsbedarf. Nur noch drei Wohnungen sind von Mieter:innen bewohnt.
Die Stadt Wien gibt auf Anfrage an, dass die von den Besetzer:innen belegten Wohnungen nicht betriebssicher seien, es bestünde Gefahr für deren Unversehrtheit. Deshalb habe die Eigentümerin des Hauses die Besetzer:innen aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Das ist eine Argumentation, der die Besetzer:innen nichts abgewinnen können.
Eine Stiftung als Eigentümerin
Als Eigentümerin tritt die Dr. Eduard Kaufmann’sche Armenstiftung auf. Der Stiftungszweck ist laut Stiftungsurkunde, «dass wahrhaft dürftige Familien mit Beträgen aus dem Reinertrag des Stiftungshauses und der verfügbaren Jahreszinsen des Stiftungskapitals unterstützt werden sollen». Inzwischen sind laut Stadt Wien alle Stiftungsverwalter:innen verstorben, die Verwaltung der Stiftung ist somit der MA40 der Stadt Wien zugefallen.
Für die verbliebenen Mieter:innen bedeute das einen wachsenden Berg an Frustrationen, schildern zwei Hausbesetzer:innen während eines Gesprächs am Esstisch «ihres» Wohnzimmers, für das sie extra ihr Kartenspiel unterbrochen haben. Eine Blumenvase steht auf dem Couchtisch. An der Wand hängt ein Foto mit dem Spruch «You don’t hate mondays, you hate capitalism», während im Nachbarzimmer ein Transparent für eine geplante Aktion zum Trocknen ausgebreitet liegt. Die meisten Wohnungen stünden seit 30 Jahren leer, berichten die beiden jungen Leute, die ihre Namen als Luka und Lukas angeben. «Es wird einfach gewartet, bis die letzten Mieter:innen wegsterben. Sanierungsarbeiten werden nicht durchgeführt. Im Erdgeschoß war ein Lokal, das Ikat. Die Betreiber:innen haben erzählt, dass sie zwangsgeräumt worden sind. Ihnen wurde gesagt, dass die Stadt Wien das Haus verkaufen will. Das haben sie uns während eines runden Tisches erzählt, den wir hier in der Gasse gemeinsam mit Nachbar:innen durchgeführt haben.»
Angesprochen auf die von Stiftung und Stadt Wien behauptete Gefährdungslage deutet Lukas auf den schönen, dunklen Holzboden, auf dem sich das Licht der durchs Fenster hereinscheinenden Frühlingssonne abbildet. «Schau dir doch den schönen Boden an. Die Bausubstanz des Hauses ist nicht so schlecht, dass es nicht vermietet werden könnte. Das Haus ist nutzbar. Alles andere ist ein faules Argument. Nur eine Wohnung ist nicht benutzbar. Es werden in Wien Wohnungen in Altbauten vermietet, die in wesentlich schlechterem Zustand sind als dieses Haus hier.»
Erfreute Nachbar:innenschaft
Die Besetzer:innen sprechen laut eigenen Angaben aus Erfahrung. «Viele von uns sind armutsbetroffen. Manche von uns sind wohnungslos», sagt Luka. «Deshalb bezeichnen wir uns auch nicht gerne als Aktivist:innen. Das hier ist keine Aktionsbesetzung, die nur auf kurze Zeit ausgerichtet ist. Wir wollen hier wohnen, und gemeinsam mit den verbleibenden Mieter:innen und der Nachbar:innenschaft etwas Nachhaltiges schaffen. Ein autonomes Haus Alsergrund, das ein echter Treffpunkt für die Menschen werden kann und Wohnraum für Menschen bietet, die ihn brauchen.» Erste Sanierungsarbeiten zu diesem Zweck seien bereits im Gange, zur Freude der Nachbar:innen. «Wir kriegen viel positives Feedback», so Luka. «Die Menschen sind froh, dass endlich etwas passiert, nachdem die Stadt so lange nichts gemacht hat. Es gibt einen Wow-Effekt. Menschen winken uns von der Gasse aus zu.»
Wenn Luka und Lukas von einem autonomen, sozialen Grätzeltreffpunkt träumen, dann denken sie auch an das Wiener Winterpaket, das Winterprogramm des Fonds Soziales Wien für obdach- und wohnungslose Menschen, welches am zweiten Mai ausläuft. Dann werden wieder die Winternotquartiere geschlossen und 850 Personen auf die Straße gesetzt. «Deshalb braucht es selbstverwalteten Wohnraum. Wir sehen, dass die Stadt Wien ein verkorkstes Monopoly spielt, von dem wir nicht mehr abhängig sein wollen», so Lukas.
Bei der Stadt Wien heißt es, die Stiftung habe für eine Sanierung des Hauses nicht genügend Eigenkapital. Deshalb müsse es verwertet werden, um Einnahmen zu generieren. Die Stadt arbeite derzeit an einer Variante, die bei einer Verwertung auch ermöglichen würde, «einen Teil der Wohnungen sozial verträglich zu gestalten», heißt es in der schriftlichen Beantwortung einer Anfrage des Augustin durch Mario Dujaković, den Pressesprecher von Stadtrat Peter Hacker. «Vorbereitungen hierfür laufen schon auf Hochtouren.»
Alternativen zur Verwertungslogik
Bei den Besetzer:innen herrscht Skepsis darüber, dass die Vorbereitungen ausgerechnet jetzt auf Hochtouren laufen, nachdem über Jahrzehnte nichts passiert ist. Sie wünschen sich, das Haus dauerhaft dem von Dujaković beschriebenen Verwertungszwang zu entziehen. Die solidarische Unterstützung durch Sympathisant:innen äußert sich vielschichtig. Während eine Nachbarin regelmäßig frischen Apfelstrudel backt, kam unlängst eine Lieferung mit frisch geerntetem Gemüse aus dem niederösterreichischen Lichtenwörth in der Harmoniegasse 10 an. Das Gemüse stammt von einem besetzten Ackergelände in der Nähe von Wiener Neustadt, welches der so genannten Ost-Umfahrung, einem umstrittenen lokalen Straßenprojekt, weichen soll. Seit November 2023 ist das Ackerland besetzt, ein Gemüsegarten entsteht. «Natürlich bringen wir das Gemüse vom besetzten Acker zu der Hausbesetzung», heißt es auf Nachfrage. «Es geht um dasselbe. Die Menschen, die die Macht und Verantwortung haben, unsere Grundbedürfnisse zu organisieren, machen einen grottenschlechten Job. Deshalb nehmen wir es selber in die Hand, besetzen Äcker und Häuser, renovieren diese und produzieren unsere eigene Nahrung.»
Die Pläne der neuen Bewohner:innen der Harmoniegasse 10 wurden am 1. Mai, beendet. Die Polizei räumte das Haus, wie von der Stadt zuvor schon angedeutet. Festnahmen hat es laut Medienberichten keine gegeben. Den Protest in Form eines spontanen Straßenfestes aber ließ sich vor Ort niemand nehmen.