Viertel ohne Eigenschaftenvorstadt

Die HafenCity und ihr hartnäckiges Klischee der Leere

Hamburg, die Stadt der Gestrandeten, die sich unter den Brücken zusammenfinden. Davon war in der Ausgabe 419 die Rede. Diesmal geht´s um andere Minderheiten: um die, die sich eine Wohnung in der HafenCity leisten können. Robert Sommer (Text und Fotos) über einen Stadtteil ohne Eigenschaften.

Eine Stadt sollte so konzipiert werden, dass der Fußgänger, die Fußgängerin alle fünf Sekunden etwas Neues sieht. Diese Faustregel für eine lebendige Stadt stammt vom dänischen Architekten Jan Gehl. Hamburg, bestes deutsches Beispiel für die Ökonomisierung der Stadtplanung, das heißt die Unterordnung des Städtebaus unter wirtschaftliche Interessen, bietet sich als Test-Laboratorium an. Denn es verfügt über Stadtviertel, die Gehls Lebendigkeits-Kriterium locker erfüllen; auf der anderen Seite besitzt es Stadtteile, in deren Monotonie der Erdgeschoß-Fassaden – wie von den Planer_innen beabsichtigt – auf alles verzichtet wurde, was die Neugier, die Aufmerksamkeit, das Interesse der Passant_innen erregen könnte.

Ein Vergleich des Karolinenviertels, ein Quartier im Hamburger Stadtteil St. Pauli, und der neuen HafenCity bietet sich an. Gleich dem flächenmäßig viel kleineren Wiener Spittelbergviertel war das «Karo» lange Zeit ein Quartier der armen Leute, doch anders als am Spittelberg wurde es von einer massiven Widerstandskultur vor dem Triumph der Gentrifizierung bewahrt (und auch vor dem Plan, das ganze Viertel abzureißen und es durch ein Messe-Erweiterungs-Gelände zu ersetzen) und zeichnet sich einerseits durch eine kulturelle Mischung, andrerseits durch eine liebenswürdige Kleinteiligkeit aus. Das Karolinenviertel ist immer belebt, es ist eine Stadt der tausend Eigenschaften.

Die HafenCity dagegen ist das typische Beispiel eines in der ganzen Welt verbreiteten Modernisierungsmodells, das als «Stadt ohne Eigenschaften» – als Synonym ist auch der Terminus «Gesichtslose Stadt» en vogue – Eingang in den internationalen Städtebaudiskurs gefunden hat. Es ist keineswegs so, dass darüber nur negativ geurteilt wird. Der niederländische Architekt und «Vordenker» Rem Koolhaas sieht in der zunehmenden Gesichtslosigkeit vieler Städte auch Vorteile: «Diese Städte funktionieren wie Flughäfen: Die immer gleichen Geschäfte sind an den immer gleichen Stellen. Alles ist über die Funktion definiert, nichts über die Geschichte», meinte er in einem «Spiegel»-Interview. Das könne auch befreiend sein. Für Einwanderer sei es einfacher, durch Dubai, Singapur oder die Hamburger HafenCity zu laufen als durch schöne mittelalterliche Stadtkerne. Die traditionelle Stadt sei von Regeln und Verhaltenscodes besetzt. Städte ohne Eigenschaften aber seien frei von Mustern und Erwartungen. Sie stellten keine Forderungen und schüfen dadurch Freiheit. Zumindest in mir entstehen keine Freiheitsgefühle, wenn ich durch Neubauviertel flaniere, in denen es weder öffentliche Gratisklos noch Graffitikunst auf den Betonwänden gibt. Und in denen die durchschnittlichen Fußgänger_innen doppelt so rasch durch die Straßen gehen als im Karolinenviertel, wo Gehls 5-Sekunden-Kriterium erfüllt ist.

Wir flüchten zu Orten, die komplexer und interessanter sind

«Indem man nur das Erscheinungsbild und die physische Struktur der unteren drei Meter eines Gebäudes ändert, kann das einen dramatischen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie eine Stadt genutzt wird», schreibt Colin Ellard in einem Essay für das Onlinemagazin «Aeon». «Nicht nur, dass die Leute eher in Stadtgebieten mit offenen und lebhaften Häuserfronten herumlaufen, sondern auch die Dinge, die sie an solchen Orten tun, ändern sich.» Betrübliche Betonbauten und monolithische Häuserblöcke seien nicht nur ästhetisch eine Katastrophe, sondern auch funktional, weil sie nicht zum Verweilen einladen, sondern zum schnellen Durchlaufen – wie in einer U-Bahn-Passage. Man gehe schnell weiter, weil man woanders hin wolle. «Auf psychologischer Ebene scheitern die Gebäude, da wir biologisch so disponiert sind, Orte zu bevorzugen, die durch Komplexität und Interesse definiert sind», schreibt Ellard weiter.

Hamburgs HafenCity ist die größte städtische Baustelle Europas, sie soll 2025 fertig sein; Büros überwiegen, die Mieter_innen der Wohnungen müssen 25 Euro pro Quadratmeter zahlen, und zwar ohne Heizung. Die Stadtregierung tut einiges, um das Klischee zu entkräften, die HafenCity und die angeschlossene Speicherstadt, die rein architektonisch betrachtet eine aufregende Neunutzung des 1883 erbauten Lagerhauskomplexes ist, seien tote Stadtteile. Es wird ihr nicht gelingen. Die Voraussetzung wäre, dass die Erdgeschoßzonen der Häuser ähnlich kleinstrukturiert und vielfältig sind wie im Karolinenviertel, sodass die hundert Teilöffentlichkeiten, aus denen im Normalfall die Gesamtöffentlichkeit eines Kietzes zusammengesetzt ist, jeweils ihre «verlängerten Wohnzimmer» finden. Die Markensammler_innen, die FC-St.-Pauli-Fans, Anarchosyndikalist_innen, die Heavy-Metal-Typen, die Freunde Udo Jürgens, die UFO-Beobachter_innen, die Hobbybastler_innen und die Asphaltstockschützen müssen hier ihre Anlaufstationen haben können, aber sie sind Fremde in der eigenen Stadt und müssen zuschauen, wie das Finanzkapital und ein paar globale Textilketten sich der Gebäude bemächtigen.

Sonderproblem Elbphilharmonie

Abgesehen davon, dass es zur sozialen Durchmischung notwendig wäre, einen Teil der Wohnungen aus dem Markt zu nehmen und Wenigverdienende mit leistbarem Wohnraum zu versorgen, müssten die Erdgeschoßflächen zu Commons erklärt werden, in dem besagte Teilöffentlichkeiten sich demokratisch um die Nutzungsrechte «streiten», was viele Kompromisse notwendig machen wird. Aber die Stadt lebt dann eben …

Ist in Hamburg im Zusammenhang mit der HafenCity von «Skandal» die Rede, ist in den meisten Fällen das Hochhaus der «Elbphilharmonie» gemeint. Es ist eines der typischen kapitalistischen Großprojekte. Im Jahre 2010 hätte der Konzertsaal, der die HafenCity abschließt, fertig sein sollen, und der Stadt hätte das Ganze 77 Millionen Euro gekostet. Heuer wird das Haus immer noch nicht fertig, aber die Öffentlichkeit muss bereits 800 Millionen zahlen. Ohne Zweifel riecht das streng nach Mafia. Doch die Elbphilharmonie ist nur die Spitze des Eisbergs. Der eigentliche Skandal ist das Privateigentum an Grund und Boden in den Städten. Die ausgezeichneten Lagen der Stadterweiterungsgebiete, im Fall Hamburg direkt an der Elbemündung, drücken sich in Bodenpreisen aus, die aktive Menschen aus den «Vorzeigestädten» vertreiben. Wie das zu überwinden wäre, vermögen selbst die Protagonist_innen einer Protestkultur, die in vielen Belangen radikaler ist als in Wien, nicht so auf Anhieb beantworten.

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