Volkskundliche Suchmaschinenvorstadt

Mit der Topothek dem Sautanz nachspüren

Immer mehr Gemeinden machen ihre Geschichte mit Topotheken zugänglich. In den Online-Archiven eröffnen sich durch private Fotos neue Perspektiven auf das Dorfleben. Erfunden hat das partizipatorische Werkzeug ein Wiener Neustädter, der seine Kindheitserinnerung sortieren wollte.

Foto: Gemeindearchiv Himberg

Reisen in die Vergangenheit sind eine lang gehegte Träumerei der Menschen. Die einen wollen wie H. G. Wells oder Michael J. Fox in eine Zeitmaschine steigen, andere sammeln alte Gegenstände und Dokumente, um den Geist von früher zu inhalieren. Die Ziele und Motive, die hinter diesen Wünschen stecken, sind so unterschiedlich wie die Personen, die die Zeitreisen unternehmen wollen – sie reichen von der Mondlandung über die Eröffnung des ersten Kinos in der Geburtsstadt bis hin zum Rundgang in jenem Park, in dem sich die Eltern geküsst haben. Während man beim Beispiel aus der Raumfahrt auf Bilder der NASA zurückgreifen muss, kann man bei lokaleren Wünschen in einem Online-Archiv fündig werden, das sich wachsender Beliebtheit erfreut: der Topothek, einer digitalen Sammlung von Fotos, Bildern, Karten, Video- und Audioaufzeichnungen mit Beschlagwortung und geografischer Verortung, mit der Gemeinden ihre Geschichte sichtbarer machen können.

Bilder, nicht Begriffe

«Der suchende Mensch denkt in Bildern, nicht in Begriffen. Die Topothek macht es möglich, diese Bilder im Internet leichter zu finden als mit einer klassischen Suchmaschine», sagt Alexander Schatek. Der gebürtige Wiener hatte vor einigen Jahren die Idee zur Topothek, weil seine ausgeprägte Sammelleidenschaft von Fotos aus seiner Kindheit nach einer alternativen Form der Archivierung verlangte. «Die Sortierung nach Zeit oder Ort war unbefriedigend, deshalb habe ich einen IT-Mitarbeiter meiner Firma gefragt, ob er mir ein Programm schreibt. Dabei sind wir auf die Idee gekommen, den Standort des Fotografen und die Blickrichtung als Fixpunkt zu verwenden – das war der Startschuss für unser Werkzeug», umreißt Schatek die ersten Schritte.

Als sich 2010 durch Mundpropaganda die Gemeinde Breitenstein am Semmering für das Tool zu interessieren begann, entwickelte der Wiener Neustädter das Programm weiter. «Wir haben den Community-Gedanken vorangetrieben. Gleichgesinnte sollten an verschiedenen Orten damit arbeiten und sich austauschen können. Wichtig war uns auch, einen Dialog mit den Nutzern zu ermöglichen», sagt Schatek. Der Prototyp fiel auf fruchtbaren Boden: Wenige Monate nachdem die Breitensteiner ihr Archiv mit historischen Fotos aus dem Dorfleben befüllt hatten, wurde es mit einem Preis für niederösterreichische Dorf- und Stadterneuerungsprojekte ausgezeichnet. Mittlerweile existieren bereits in 35 Gemeinden und Ortschaften in Wien, Niederösterreich und Oberösterreich Topotheken, weitere 15 befinden sich in Planung.

Vergangenes in die Gegenwart holen, bisher private Aufzeichnungen sichtbar und für die Allgemeinheit abrufbar machen – das sind die Beweggründe, eine Topothek einzurichten. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Einbeziehung der Bevölkerung, das Crowdsourcing, wie es mit dem englischen Fachbegriff heißt. In den Topotheken finden sich jeweils einige hundert Zeitdokumente, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen und meist alltägliche Szenen aus dem Dorfleben zeigen. Im Fall von Breitenstein sind es Fotos von den mächtigen Viadukten der Semmeringbahn, von einem Feuerwehrfest aus den 1930er Jahren und gescannte Ausschnitte aus Chroniknachrichten von Tageszeitungen, die den Ort betreffen. Betrieben werden die Topotheken von Kommunen und Vereinen, der finanzielle Aufwand ist überschaubar. «Die Topothek kostet einer Gemeinde im Jahr 570 Euro. Dazu kommt eine einmalige Gebühr von 485 Euro für die Einschulung der Topothekare», sagt Schatek. Zwar könne ein Archiv auch von einer Einzelperson betrieben werde, das Engagement der Bevölkerung sei jedoch höher, wenn es im öffentlichen Interesse geschehe. «Dann ist es nicht der private Wahnsinn eines Menschen, den man vielleicht nicht mag, sondern ein Dienst für die Allgemeinheit.» Das sei auch eine gewisse Garantie für die Nachhaltigkeit des Projekts. «Wenn die Gemeinde das trägt, wird die Topothek nicht eingestellt, sollte ein Einzelner das Interesse daran verlieren.»

Als wesentlichen Erfolgsfaktor der Topotheken sieht Schatek die leichte Bedienbarkeit seines Werkzeugs. «In die Topothek kann man übers Gemüt einsteigen.» Die Bedienung müsse so einfach wie möglich sein. Wenn sie zu komplex sei, würden die Leute damit nicht mehr damit arbeiten wollen.

Dateien hochladen kann jeder, der sich um einen Zugang bemüht. Um die europäische Archivnorm zu erfüllen, sind lediglich einige Basisinformationen notwendig. Das Dokument braucht einen Namen, ein Datum, mindestens ein Schlagwort und den Verweis auf das Copyright. «Mit drei Klicks lege ich dann noch den Ort und die Blickrichtung auf der Karte fest – und das war es auch schon», sagt Schatek. «Die Topothek ist a priori kein wissenschaftliches Tool, weil keine Interpretation und keine Auseinandersetzung mit den Inhalten erfolgt. Das Archiv kann aber natürlich für wissenschaftliche Projekte genutzt werden.» Wichtig ist dem 53-jährigen Unternehmer auch der unkommerzielle Gedanke: «Wir nehmen den Leuten nichts weg, das Copyright bleibt bei ihnen. Wir haben auch keine weiterführenden Absichten mit dem Material. Unser Produkt ist die Topothek selbst.»

Vernetzter Sautanz

Dem Topothekenerfinder zufolge sind es in erster Linie die Dorfbewohner selbst, die das Werkzeug nutzen. Aber auch Neuzugezogene oder Touristen könnten sich damit ein Bild vom Ort machen. Die Motive, warum Fotos hochgeladen werden, seien sehr unterschiedlich. «Die meisten Nutzer wollen ihrer Familie, Freunden oder sich selbst ein kleines Denkmal setzen. Und das Spannende ist, dass man nie sagen kann, wann wer etwas sucht.» So habe sich kürzlich ein Verein aus England, dessen Mitglieder sich für historische Dampfmaschinen interessieren, beim Topothekar aus Himberg gemeldet. «Sie haben auf einem Foto eine Erntemaschine mit dem Baujahr 1905 entdeckt, von der nur 30 Stück erzeugt worden sind», erzählt Schatek schmunzelnd. «Für die Himberger war aber nicht die Dampfmaschine das Interessante, sondern die Menschen auf dem Foto.»

«Die Topotheken bringen die Menschen zusammen», sagt Schatek über seine volkskundlichen Suchmaschinen, deren Reichweite und Tiefe er weiter ausbauen will. «Wir hatten auch schon eine Anfrage von einem Requisiteur, der wissen wollte, wie der Sautanz, das traditionelle Schlachtfest von Kleinbauern, früher ausgeschaut hat.» Um solche Fragen noch besser beantworten zu können, bastelt der Neustädter an einer Zusammenführung der einzelnen Ortsarchive. «Wenn wir diese Metatopothek haben, kann ich auch sehen, welche Trachten beim Sautanz in anderen Regionen getragen worden sind.»

Reinhard Krennhuber

Info:

Die www.topothek.at arbeitet mit dem Internationalen Zentrum für Archivforschung – ICARUS zusammen. ICARUS vernetzt Archive, Universitäten und nicht zuletzt Laienforscher_innen. Das Netzwerk besteht aus mehr als 150 institutionellen Mitgliedern aus 26 europäischen Staaten, den USA und Kanada. Schwerpunkt bildet die Digitalisierung von historischen Dokumenten, wie Urkunden und Kirchenbüchern und alten Fotos, die auf digitalen Plattformen für jedermensch zugänglich gemacht werden.

www.icar-us.eu