
Eine Winterreise. Mit dem Faltrad entlang alter und neuer Bruchlinien europäischer Geschichte.
Die Wienerstadt rüstet sich für die bevorstehenden Einkaufsfesttage, Rad und Fahrer finden sich zum Tourstart am Belgradplatz ein. Das Ziel steckt im Namen des Ausgangspunktes. Der Platz im 10. Wiener Gemeindebezirk verdankt seinen Namen dem Feldherrn Prinz Eugen, der die heutige serbische Hauptstadt vor Jahrhunderten aus den Händen der Osmanen befreite. Barankapark und Hellerwiese nehmen den Platz für sich ein. An der Hellerwiese befand sich einst die Schokoladen- und Zuckerl-Fabrik der Gebrüder Heller. Das damals noch unverbaute Gelände diente den fahrenden Lovara, Rom:nja und Sinti:zze als Sammelplatz. Für viele endete die letzte Reise in den Konzentrationslagern des NS-Regimes.
Der Donauradweg durch die Auen ist aufgrund der momentanen Wetterlage unbefahrbar, als Alternative findet sich eine Landstraße durch die unendlichen Weiten des Tiefkühl-Gemüse-Anbaus, dem Marchfeld. Bei Schloßhof führt die «Fahrradbrücke der Freiheit» über die March und den ehemaligen «Eisernen Vorhang» an den Stadtrand von Bratislava.
Weiß wie Schnee
Das Stadtzentrum wird großräumig umfahren, über die Starý most, eine Straßenbahn-Rad-Fußgänger-Brücke, wird die Donau gequert, und eingetaucht in Petržalka. Das ehemalige Dorf wurde in den Sechzigerjahren offizieller Stadtteil Bratislavas und in Folge zu einer sozialistischen Plan-Plattenbau-Stadt aufbetoniert. Der Grauschleier über der Stadt macht das Bild noch dramatischer und schon bald rollen die Räder auf ungarischem Asphalt.
Der morgendliche Blick aus dem Fenster präsentiert ein wattefarbiges Meer. Die Landschaft hat all ihre Farben verloren, eine Fotografie in Schwarz und Weiß. In Almásfüzitő wartet ein Bummel-Zug allein auf weißer Flur auf Mitreisende. Dem Faltrad sei Dank, wenige Handgriffe später sitzen Rad und Fahrer im ausgemergelten Triebwagen Richtung Esztergom. Ein Dom auf einem Hügel beherrscht die einstige Hauptstadt des Königreichs Ungarn.
Eine Stalinstadt am Schdrom
Der Donauradweg, die am stärksten befahrene Radroute Europas führt idyllisch bis an den Stadtrand von Budapest. Die Stadteinfahrt kann mit unzähligen Attraktionen aufwarten: Auf der Pester Seite erscheint das monumentale Parlamentsgebäude, auf der Budaer Seite grüßt schon aus der Ferne die Freiheitsstatue auf dem Gellértberg, durch die Häuserfronten blinzelt die Fischerbastei, darunter spannt sich die zentrale Kettenbrücke.
Der Stopp in Dunaújváros ist bewusst gewählt, die Industriestadt an der Donau ist ein echtes Unikat. Nicht schön, dafür mit einer außergewöhnlichen Geschichte. Das Zentralkomitee der ungarischen Kommunist:innen hatte den glorreichen Einfall, aus dem Dorf Dunapentele eine Retortenstadt zu Ehren des Genossen Stalin zu errichten. Ein Stahlwerk samt angeschlossenen Wohnsiedlungen für das arbeitende Volk. Aus Dunapentele wurde Sztálinváros, Stalinstadt. Heute heißt die Stadt Dunaújváros und die Stalinstraße wurde zur Stahlwerkstraße. Der Lokalaugenschein führt durch eine unfertige Stadt mit Hauptstraße, aber ohne richtiges Zentrum. Ein Historiker soll den Ausspruch getätigt haben: «Nur wer einen Vogel hat, verweilt länger als nötig in Dunaújváros!»
Der rote Fićo
Der Schdrom dampft, die Dunstglocke verschluckt ganze Fährschiffe. Nur die Enten lassen diese Waschküche gleichgültig an sich abtropfen. Zwischen Hercegszántó und Bački Breg wird zum zweiten Mal der «Eiserne Vorhang» überwunden. Hier ist der Schrecken wieder Realität. Die Flüchtlingsankünfte veranlassten die ungarische Regierung unter Viktor Orbán zum Bau eines neuen Grenzzauns zu seinen Nachbarn Serbien und Kroatien mit neuen Spielregeln: Alle Menschen dürfen ausreisen, aber nicht jede:r darf einreisen.
Vor dem Fenster geht die Sonne auf. Reiher gleiten lautlos über die unzähligen Donaukanäle auf der Suche nach einem Frühstück. Eine Brücke über den Schdrom verbindet Serbien mit Kroatien. Die Stadteinfahrt nach Osijek, führt über die Drava/Drau. Als erstes sticht die ausgedehnte Festungsanlage Tvrđa ins Auge. Als Bollwerk gegen die Osmanen gebaut, ist sie gleichzeitig die heutige Altstadt. Der Kroatienkrieg ist lange her und trotzdem allgegenwärtig. Viele Gebäude im Stadtbild stellen ihre Kriegswunden noch ungeschminkt zur Schau. An der Vukovarska cesta sorgt der «Crveni fićo» für Aufsehen. Ein Symbol des Widerstands: «Der rote Zastava Fićo überrollt einen Panzer der Jugoslawischen Volksarmee».
Erste Hilfe für das Rad
Nördlich verliert sich die Drau in der Donau, schdromabwärts liegt Vukovar direkt am Fluss. Kreuze erinnern an die dunkelsten Zeiten des jugoslawischen Zerfalls. Der im Krieg zerstörte Wasserturm gilt seither als Mahnmal. Die Ruine wurde renoviert, ein Lift eingebaut und in ein Museum umgewandelt. Die Aussichtsplattform bietet ein 360-Grad-Panorama: Stadtzentrum, Umland und der Schdrom von Nord nach Süd, bis zum Horizont!
Kroatien entschwindet im Rücken, Serbien im Blick. Ein Schwanenpaar sorgt mit seinem Flügelschlag für ordentlichen Wirbel in der stillen Landschaft. Ab Beočin ist es vorbei mit der Idylle, die Stadt ist bekannt für ihre Zementindustrie. Auf der schmalen, stark befahrenen Straße ist kein Platz mehr für ein Zweirad und das
Straßenbankett ist ein einziger Schlammstreifen. In kürzester Zeit passt nichts mehr zwischen Reifen und Kotschützer und die Räder stehen still. Novi Sad, die Hauptstadt der Vojvodina, bringt Erleichterung. Mit Blick auf die Festung Petrovaradin erfährt das Faltrad die überfällige Erste-Hilfe-Leistung.
Eine Stadt im Wandel
Fehlende Radwegweiser, stark befahrene Einfahrtsstraßen und aufdringliche Straßenhunde machen die Zieleinfahrt zum Teufelsritt. Ab Zemun-Zentrum glätten sich die Wogen und ein Radweg führt gelassen in die serbische Metropole. Am Save-Ufer gegenüber der Kalemegdan-Festung wird auf den Zieleinlauf angestoßen. Belgrad zeigt sich von seiner ruhigsten Seite, vereinzelte Flaneur:innen genießen die Stille in der Großstadt. Mit der Überquerung der Brankov Most ist es Schluss mit Gelassenheit. Belgrad pulsiert. Die Stadt befindet sich im Umbruch, Stadtviertel verschwinden, neue entstehen. So entsteht, wo einmal das schmuddelige, dafür umso lebendigere Viertel Savamala für ausgelassene Zerstreuung sorgte, eine von Investor:innen ausgedachte «Belgrade Waterfront».
Als letzte Herausforderung wartet die zehnstündige Busfahrt in einem vollgestopften Doppeldeckerbus, im Ohr die Weihnachts-Schnulze von Chris Rea: «Driving Home For Christmas»!
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