Vor zehn Jahren begann der «Arabische Frühling» in Syrien.
Was als friedlicher Übergang zur Demokratie gedacht war, wurde zum Massenmord mit internationaler Beteiligung. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Drei, die gut in Wien gelandet sind, blicken zurück.
Text: Markus Schauta
Fotos: Carolina Frank
«Am Anfang hatten wir Angst.» Wenn Abdul vom März 2011 erzählt, ist das wie aus einem anderen Leben. Vor zehn Jahren begannen die Proteste in Syrien. Ermutigt von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten, wo Massenproteste die Langzeitherrscher Ben Ali und Hosni Mubarak zum Rücktritt zwangen, gingen auch in Homs die Menschen auf die Straße und forderten das Ende des Regimes.
Nahmen zuerst nur wenige Dutzend an den Protesten teil, wurden es rasch Hunderte und später Tausende. Gemeinsam mit anderen organisierte Abdul Demonstrationen, filmte sie und verbreitete die Videos im Internet. In diesen ersten Wochen glaubte Abdul, dass der Sturz von Bashar al-Assad möglich wäre: «Jede Woche sagten wir: Jetzt gelingt es.»
Doch stattdessen wurde aus den friedlichen Protesten ein bewaffneter Aufstand und schließlich einer der schlimmsten Zerstörungskriege seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis heute sind über eine halbe Million Menschen gestorben, sechs Millionen geflüchtet, das Land ist katastrophal verwüstet. Es wieder aufzubauen, wird Jahrzehnte dauern.
Vier Tage wie vier Jahre.
Den 11. September 2011 kann Abdulhamid nicht vergessen. Damals hat er Syrien über die Grenze nach Jordanien verlassen und seitdem nicht wieder betreten. Der Sohn eines Kleidungsproduzenten nahm seit März an Demonstrationen in Damaskus teil. Im August verhaftete ihn der Geheimdienst. Die syrischen Gefängnisse sind bekannt für brutale Folter, die viele nicht überleben. Abdulhamid wusste nicht, wann und ob überhaupt sie ihn wieder gehen lassen würden. Am zweiten Tag brachte man ihn zum Verhör. Er konnte nichts sehen, seine Augen waren verbunden. Eine halbe Stunde lang wurde er befragt, über seine Arbeit, seine Familie, seine Freund_innen. Dann schlugen sie ihn. Als sie ihn gehen ließen, war er von Blutergüssen übersät. «Die vier Tage dort waren für mich wie vier Jahre», sagt er. Dabei hatte er Glück. Zwei Freunde, die im selben Jahr verhaftet wurden, verschwanden in Assads Kerkern. Bis heute weiß er nicht, ob sie noch leben.
Bei seiner Entlassung musste Abdulhamid eine Erklärung unterschreiben, mit der er sich verpflichtete, nie wieder an Demonstrationen teilzunehmen und erreichbar zu bleiben. «Es war absehbar, dass sie mich wieder holen würden.» Drei Wochen später stieg er in einen Bus Richtung Saudi-Arabien. Als Abdulhamid im Herbst 2011 Syrien verließ, waren die friedlichen Proteste längst zu einem bewaffneten Aufstand eskaliert. Tausende Wehrpflichtige und Offiziere waren aus der Syrischen Armee desertiert, um sich in der sogenannten «Freien Syrischen Armee» (FSA) dem Kampf gegen das Regime anzuschließen.
Abdul blieb in Homs. Auch in seiner Heimatstadt begann sich der Widerstand zu bewaffnen. Führten zunächst Milizen der FSA den Kampf an, traten im Laufe der Monate immer mehr radikale Islamisten auf, finanziert von den Golfstaaten. Homs wurde von den Regierungstruppen eingeschlossen. Die drittgrößte Stadt Syriens an der Autostraße zwischen Damaskus und Aleppo war für das Regime zu wichtig, um sie den Rebellen zu überlassen. Als die ersten Bomben fielen, verließ Abduls Frau mit den Kindern Homs und floh nach Damaskus. Abdul blieb und dokumentierte, was in der belagerten Stadt geschah. Rasch wurden die Lebensmittel knapp und bald gab es nichts anderes als Gräser und Kräuter zu essen. Anfang 2013 verließ er Homs. Da er vom Regime gesucht wurde, floh er durch einen Kanal. Stundenlang kroch er durch das Abwasser, in den engen Röhren wurde er von Ratten gebissen. Die Flucht gelang. Im Mai 2014 fiel Homs an die Regierungstruppen.
Kein Zurück.
Sylvana verließ Damaskus 2013. Über ein Erasmus-Programm hatte sie an mehreren europäischen Universitäten um ein Stipendium angesucht. Schließlich erhielt sie ein Einreisevisum nach Polen, wo sie in Poznań Internationale Beziehungen studierte. Eigentlich wollte Sylvana nach Abschluss ihres Studiums nach Syrien zurück. Aber ihre Freund_innen in Damaskus rieten ihr ab. Der Konflikt war längst eskaliert und hatte sich internationalisiert. Jihadist_innen aus Europa und Nordafrika strömten zu Tausenden ins Land, um sich der Opposition anzuschließen. Die libanesische Hisbollah griff auf Seiten des Regimes in den Krieg ein und der Iran schickte Soldaten, um Assad zu unterstützen. Dann kam der IS. Die Miliz «Islamischer Staat» brachte im Osten Syriens mehr und mehr Städte unter ihre Kontrolle. Sie zwang Menschen unter ihre radikale Auslegung des Korans, wer sich widersetzte, wurde brutal ermordet.
Nach einem Jahr musste Sylvana ihr Visum verlängern. Dazu hätte sie bei der polnischen Immigrationsbehörde ihre Fingerabdrücke abgeben müssen. Das wollte sie nicht. Sie hatte Angst, dann kein Visum mehr in einem anderen europäischen Land zu bekommen. Und in Polen wollte sie nicht bleiben. Also ging sie während der Sommerferien nach Österreich und beantragte Asyl. Seit drei Jahren lebt sie nun in Wien, hat Deutsch gelernt und arbeitet als Sekretärin in einem Rehabilitationszentrum.
Ende 2014 verließ Abdul mit seiner Familie Syrien. Sie lebten einige Monate in Istanbul, wo Abdul Arbeit fand. Doch die Nachfrage nach Jobs war groß und viele türkische Arbeitergeber_innen nutzten die Notlage der Syrer_innen aus und ließen sie für Hungerlöhne arbeiten. 2015 beschloss Abdul Richtung EU aufzubrechen. Es war das Jahr, in dem Russland in den Syrienkonflikt eingriff. Die Bombenangriffe wurden immer mehr. Ganze Stadtteile wurden in Schutt und Asche gebombt, Märkte, Schulen und Krankenhäuser zerstört. Die in unübersichtlich viele Milizen gespaltene Opposition verlor ständig an Boden. Schritt für Schritt gelang es Assad und seinen Verbündeten, große Teile Syriens wieder unter Kontrolle zu bringen.
Dem Krieg entkommen.
Abdulhamid hatte seit 2011 in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda gelebt und gearbeitet. Doch sein Visum lief ab, und zurück nach Syrien konnte er nicht. «Das hätte meinen Tod bedeutet», sagt er. Also flog er im Herbst 2015 nach Istanbul. In einem Schlauchboot setzte er nach Griechenland über. Fünf Tage später war er in Wien. Abdulhamid besuchte Deutschkurse und suchte das Gespräch mit Österreicher_innen, um möglichst rasch die Sprache gut zu sprechen. Er machte die Ausbildung zum Webentwickler und fand Arbeit. 2016 lernte er seine jetzige Frau kennen, 2018 heirateten sie. In Wien fühlt er sich angekommen. Als er seine Geschwister in der Türkei besuchte, sprach er von Wien als seinem Zuhause. «Als ich wieder in Österreich war, hab ich mich gefreut», sagt er. Doch wenn er in den Medien hört, wie manche Politiker_innen über Flüchtlinge sprechen, beunruhigt ihn das: «Ich habe Angst, dass ich hier vielleicht keine Zukunft habe.»
Mehr als eine Million Syrer_innen kamen bisher nach Europa, 50.000 leben in Österreich. Sylvana ist viel mit Syrer_innen über die Sozialen Medien in Kontakt und kennt die Herausforderungen, mit denen sie zu kämpfen haben. «Ich bin in Damaskus aufgewachsen», sagt sie. «Dort ist das Leben offener als in den Dörfern.» Aber viele Leute, die nach Europa kamen, wurden in den ländlichen Regionen von Idlib, Aleppo oder Deir ez-Zor geboren. Sie können sich in Europa anfangs oft schwer orientieren, so Sylvana. Die Sprache sei eine der größten Hürden. Wenn ein 50-Jähriger, der gerade einmal die Grundschule besucht und nie eine Fremdsprache erlernt hat, plötzlich Deutsch lernen soll, dann überfordere ihn das. Andererseits seien viele Junge gekommen, die kein Problem haben, Deutsch zu lernen und Arbeit zu finden. Manche haben Restaurants und Geschäfte eröffnet und tragen damit zur Wirtschaft bei. Da sollte es doch möglich sein, auch jene mitzutragen, die sich bei der Integration nicht so leicht tun, so Sylvana. «Wir Syrer sind hier, weil wir dem Krieg entkommen mussten», sagt sie. «Niemand hat freiwillig seine Familie und Freunde verlassen.»
Verbranntes Land.
Für die nahe Zukunft hat Sylvana keine Hoffnung für Syrien. «Es wird viele Jahre dauern, bis Syrien sich ökonomisch erholt hat.» Aber es gehe nicht nur um den Wiederaufbau. «Die Seelen der Menschen sind zerstört», sagt sie. Sylvana hofft, dass sich Assad irgendwann einmal vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten muss. Ihre Familie in Damaskus hat sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Doch ins Land einreisen kann sie nicht. Sylvana ist in den Sozialen Medien aktiv, wo sie Assads Politik kritisiert. Sie weiß, dass das Regime die Diaspora genau beobachtet. Sollte ihr Name auf einer der Listen stehen, würde sie bei der Einreise nach Syrien verhaftet und ins Gefängnis geworfen werden, ist sie überzeugt.
Heute befindet sich der größte Teil Syriens wieder unter Kontrolle des Regimes, darunter wichtige Städte wie Damaskus, Homs und Aleppo. Im Nordosten haben kurdische Milizen, unterstützt von den USA, das Sagen. Den Nordwesten des Landes kontrolliert die Türkei in Kooperation mit den Resten der Opposition, darunter Al-Qaida-nahe Milizen.
Abdul hat mit seiner Familie eine Wohnung in der Seestadt gefunden. Er arbeitet als Maler, irgendwann möchte er sich selbstständig machen. In Syrien, wie es heute ist, will Abdul nicht leben. Von den Islamist_innen in Idlib hält er nichts, er hofft auf ein säkulares Syrien. Die Forderungen der Kurd_innen nach Selbstständigkeit sieht er kritisch. «Eine Abspaltung der kurdischen Region würde Syrien zerreißen», meint er. Vom Regime wird er nach wie vor gesucht. Dass Assad weg müsse, steht für ihn außer Frage: «Das ist die einzige Lösung.» Sobald das geschehen ist, würde er gerne mit seiner Familie zurück nach Syrien gehen.
Für Abdulhamid kommt eine dauerhafte Rückkehr nicht in Frage. Er möchte mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Kind in Wien bleiben. Außerdem sei es für ihn inzwischen schwierig, sich in der Gesellschaft seines Heimatlandes zurechtzufinden. «Mein Vater hat zehn Jahre Krieg erlebt», sagt er. «Er hat eine andere Perspektive auf das Leben als ich.» Seine Weltanschauung habe sich verändert. Wiedersehen möchte er Syrien dennoch: «Wenn die Regierung einmal weg und der Krieg beendet ist, kann man darüber nachdenken, auf Besuch dorthin zu gehen.»