Vom Recht auf Wohnentun & lassen

Immo Aktuell

Housing First. Die Erkenntnis, dass zuerst eine Wohnung hermuss, um Krisen aller Art zu überwinden, spielt in der Wiener Wohnungslosenhilfe eine große Rolle. Die Probleme, die dahinterliegen, gehen weit über reine Sozialarbeit hinaus.
Text: Christian Bunke, Illustration: Much

Stell dir vor, du hast keine Wohnung, keine Adresse. Du hast keine Tür, die du hinter dir abschließen kannst. Keinen eigenen Raum zum Schlafen, zum Zeitverbringen, um bei dir zu sein. Willst du einen Job, brauchst du eine Wohnadresse. Willst du ein Bankkonto, brauchst du eine Anschrift. Du musst zum Arzt? Schwierig, wenn du nicht sagen kannst, wo du wohnst.
Allein diese kleine Auflistung zeigt, wie essenziell der eigene Wohnort für eine einigermaßen erfolgreiche Lebensgestaltung ist.

Sicher, leistbar, bedingungslos.

Jahrzehntelang galt in der Wohnungslosenhilfe: Als Wohnungslose_r muss man sich seine eigenen vier Wände erst verdienen. Über Gehorsam gegenüber Sozialarbeiter_innen, verpflichtender Teilnahme an Sozialisierungsmaßnahmen, Drogenentzugstherapien, Jobsuche und anderer Dinge mehr. Seit 2012 wird in Wien das Konzept «Housing First» vorangetrieben. Das bedeutet: Man garantiert Menschen zunächst eine sichere, leistbare und an keine Vorbedingungen geknüpfte Wohnung, um eine Basis, einen Heimathafen zum Aufbau ihrer Existenz zu sichern. «Housing First» ist somit das Gegenteil einer Sozialarbeit, die auf Zwang und Sanktionierungen beruht.
Die Sozialeinrichtung neunerhaus hat sich das Konzept zu eigen gemacht. In den vergangenen Jahren wurden so 150 Wohnungen zum Quadratmeterpreis von 7,17 Euro vergeben und damit nach eigenen Angaben 327 Personen aus der Wohnungslosigkeit geholfen. Die Wohnstabilität liegt bei 94 Prozent, die allermeisten haben also über das neunerhaus eine dauerhafte Bleibe gefunden.

Wohnpolitik first.

Der Begriff «Housing First» hat aber auch eine explizit politische Bedeutung. Das wird ersichtlich, wenn man das Ende 2019 erschienene Positionspapier Wohnen für alle der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) durchblättert, deren Obfrau neunerhaus-Geschäftsführerin Elisabeth Hammer ist. Das universelle Menschenrecht auf Wohnen, erfährt man hier, gilt in Österreich nur abgeschwächt. Entsprechende Paragraphen in der Europäischen Sozialcharta hat die Republik nicht ratifiziert. Das Recht auf Wohnen ist hierzulande nicht individuell einklagbar, und in der Bundesverfassung ist es auch nicht verankert.
Das hat konkrete Auswirkungen. «Es ist eine politische Frage. Wie viele Wohnungen gibt es, an wen werden sie übergeben? Es ist wichtig, dass Neubau in einem leistbaren Segment stattfindet. Das passiert viel zu wenig», sagt Elisabeth Hammer. Ein Grundproblem der Wohnungslosenhilfe sei, dass man zwar Menschen in das Hilfssystem hineinbekomme: «Aber wie bekommt man sie wieder hinaus, in ein normales Wohnverhältnis?»
Das schwarz-grüne Regierungsprogramm beantwortet diese Frage auf seine Weise: Der Anteil des Eigentums im Wohnbau soll gestärkt werden. «Das lehnen wir als BAWO ab», sagt Hammer. «Eigentum ist für unsere Zielgruppe nicht leistbar. Gemeinnützige Wohnungen müssen gemeinnützig bleiben. Soziale Widmung muss bestehen bleiben.» Im Gegensatz zur Regierung fordert die BAWO eine Förderung des Mietsegments und den Ausbau einer «Wohnversorgung abseits von Marktlogik und Gewinnmaximierung». Das sei dringend nötig, sagt Hammer, denn leistbaren Wohnraum zu finden sei auch über gemeinnützige Bauträger für die Einrichtung neunerhaus nicht immer einfach. «Das ist ein komplexer Prozess. Es gibt Zeitdruck, die Bauträger wollen schnell vermieten. Es geht um Geld, nicht immer gibt es die richtigen Wohnungen für die richtigen Leute.» Es gebe aber sehr wohl auch eine Reihe von Gemeinnützigen, die ihrem historischen Auftrag eines «Housing First» gerecht werden wollten.

Mehr als Sozialarbeit.

Die steigenden Mieten auf dem freien Wohnungsmarkt sind eine Barriere für die Durchsetzung des Rechts auf Wohnen. Die andere Seite der Medaille ist die Zunahme von Niedriglöhnen und von prekären Job- und Lebensverhältnissen. Hammer konstatiert: «Es gibt eine erschreckend hohe Zahl von jungen Erwachsenen, die den Zugang zum Wohnungsmarkt nicht finden.» Deshalb fordert die BAWO «höhere Löhne, insbesondere im Niedriglohnbereich», die «Bekämpfung von prekären Dienstverhältnissen» sowie steuerpolitische Maßnahmen wie eine «Umschichtung zu vermögensbezogenen und ökologischen Steuern». Schnell wird deutlich, wie viele Bereiche beim Stichwort «Housing First» ineinandergreifen; die Wohnungsfrage ist nicht allein über Sozialarbeit lösbar. Ein Recht auf Wohnen braucht in erster Linie politischen Willen – und eine politische Praxis.