Besonders im Winter schläft es sich im Freien nicht ruhig. Und mitunter ganz anders als in Marc Augés ethnofiktionalem «Tagebuch eines Obdachlosen». Gesprächsfetzen einer Unterhaltung mit einem wohnungslosen Hacker in Wien.
Text: Barbara Eder, Illustration: Silke Müller
Wer Stefan* zum ersten Mal sieht, würde ihn vielleicht für einen der Engel halten, die gegen Jahresende beim Chaos Communication Congress Plätze anweisen und Menschenströme organisieren. Er ist Anfang fünfzig und trägt eine orangefarbene Warnweste über der Daunenjacke, darunter drei Pullover, die ihn vor der Kälte der Straße schützen. Er weiß, wie man dort im Winter übernachtet – und noch viel mehr über das, was es bräuchte, um diesen Zustand für alle in Wien lebenden Personen, die keinen festen Wohnsitz haben, zu beenden.
Als ehemaliges Mitglied der österreichischen Piratenpartei ist er als Blogger aktiv, seinen Laptop hat er stets mit dabei. Nach Schließzeit der Universitätsbibliothek trifft man ihn nicht selten im Hack-Space metalab, ganz hinten, am äußeren Rand der Couch. Das bei Uni-Computern häufig anzutreffende Problem von eingeschränkten Suchfunktionen und gesperrten Seiten stellt sich im metalab nicht und Stefan, dem gelernten Philosophen, ehemaligen Nachhilfelehrer und politischen Aktivisten gelänge es phasenweise sogar, über das Netz ein wenig Geld zu akquirieren, wie er erzählt.
Ohne stabile Unterkunft.
Folgt man den Ausführungen des französischen Ethnologen Marc Augé, dann könnte man Stefan als SDS bezeichnen. Das Akronym ist eine Abkürzung für Sans Domicile Stable (dt.: ohne stabile Unterkunft, wohnungslos) – eine infolge von neoliberalen Einschnitten in den europäischen Sozialsystemen seit den letzten zwanzig Jahren wachsende Personengruppe, deren Angehörige nicht selten zwar Arbeit haben, aber zu wenig verdienen, um sich noch eine Wohnung leisten zu können. Augé greift auf diese Bezeichnung zurück, um damit den Unterschied zu klassischen Formen der Obdachlosigkeit hervorzuheben: Im Gegensatz zu den SDF, der Gruppe der Sans Domicile Fixe (dt.: ohne fixe Unterkunft, obdachlos) handelt es sich bei SDS um Personen, die phasenweise bei Freund_innen unterkommen, sich temporär ein Hotelzimmer leisten können oder aber in fahrenden Vehikeln – Wohnwaggons, Autos, LKWs – leben und dadurch an keinen Aufenthaltsort mehr gebunden sind.
Anders als avancierte Kunstdiskurse, die zu Beginn der Neunziger den Jargon des Nomadischen für sich entdeckten, handelt es sich bei derartigen Existenzformen nicht um einen neo-avantgardistischen Way of Life, der oftmals mit kolonial-rassistischen Projektionen – so etwa dem ethno-folkloristischen Klischee vom «fahrenden Volk» – versehen worden war. Auch Augés 2012 in deutscher Übersetzung erschienenes Tagebuch eines Obdachlosen ist von derartigen Klischees nicht frei. Aus der Ich-Perspektive beschreibt der Autor darin den Weg eines Pariser Rentners in die Obdachlosigkeit. Auch infolge von gerichtlich festgesetzten Unterhaltszahlungen bleiben dem geschiedenen Vater und ehemaligen Finanzbeamten von seiner Pension nicht mehr als 1150 Euro, bei einer Miete samt Nebenkosten von – damals – 1400 Euro pro Monat für eine Wohnung in einem Pariser Arrondissement der gehobenen Stände.
Anzug und Krawatte.
Stefan kennt Marc Augé und seine Ausführungen – und vieles davon erscheint ihm auf merkwürdige Weise konstruiert. Es mag erstaunen, dass Augés Erzähler sich den – wenngleich auch in die Jahre gekommenen – Mercedes überhaupt noch leisten kann, in dem er seit dem Verkauf seiner Wohnung auf Parkplätzen in unterschiedlichen Vierteln von Paris übernachtet. Auch kann dieser Ich-Erzähler regelmäßig Mahlzeiten in Bistros und Cafés konsumieren, in denen ein Mittagsmenü mit zwölf Euro veranschlagt ist. Im Wissen um die eigentliche Privilegiertheit seiner Situation bezeichnet dieser sich auch als «Luxus-Obdachlosen», dem es immer wieder gelingt, von der eigenen sozialen Lage möglichst wenig nach außen durchschimmern zu lassen. Er wäscht sich jeden Tag in den öffentlichen Anlagen von U-Bahn-Stationen und Parks und achtet beim morgendlichen Blick in den Spiegel auf ein gepflegtes Aussehen – in Anzug und mit Krawatte.
Groß sind demnach auch die Distinktionsabsichten gegenüber anderen Obdachlosen, von einem Bettler namens François, dem Augés Protagonist jeden Tag bei seinem Spaziergang am Boulevard Saint-Michel begegnet, grenzt er sich entschieden ab. «Am allerwichtigsten ist es, nicht für jemanden gehalten zu werden, der draußen schläft» – so lautet die erste Regel für einen, der sich seine Obdachlosigkeit nicht ansehen lassen will. Der Verdienstorden des französischen Staates auf dem Revers seines Jacketts soll stets besonders gut sichtbar sein.
Schlafen im Stehen.
Stefan wohnt nicht in einem Mercedes und trägt auch keinen Anzug. Nachdem das Wohnservice Wien sein Ansuchen trotz vorgelegtem Räumungsbescheid abgelehnt hat, schläft er im Sommer im Freien und im Winter in einem vier Quadratmeter großen Store, in dem ansonsten nur sein persönlicher Besitz eingelagert ist. Offiziell erlaubt ist das Übernachten im angemieteten Zwischenlager nicht, wenn man dieses jedoch vor 22 Uhr betritt und vor 6 Uhr morgens wieder verlässt, bliebe man für die am Gang installierten Überwachungskameras und Bewegungssensoren ebenso unentdeckt wie für das Security-Personal. Das Schlafen im Stehen habe Stefan beim Bundesheer gelernt – und es ermögliche ihm, mehr der nächtlichen Stunden im Tiefschlaf zu verbringen, als dies in Hauseingängen und Foyers möglich wäre. Die Angst, dabei von der Polizei entdeckt und angezeigt zu werden, ist dabei ebenso groß wie die, zusammengeschlagen und ausgeraubt zu werden, und der damit einhergehende Schlafentzug räche sich auf Dauer.
Aus diesem Grund favorisiert Stefan den öffentlichen Raum betreffend auch einen Post-Privacy-Ansatz. Viele Obdachlose würden es seiner Meinung nach begrüßen, wenn in Nähe ihrer Schlafstellen Videokameras installiert wären und man damit auch ihrem Sicherheitsbedürfnis ausreichend nachkommen würde. Mehr als einmal wurde Stefans Laptop schon gestohlen, und er bedauere es, dass eigens dafür vorgesehene Laptop-Schlösser wenig Abhilfe schaffen. Bedarf an speziell für Obdachlose zur Verfügung gestellten, öffentlichen Schließfächern gäbe es – gerne auch gegen Münzeinwurf.
Saisonale Überbrückung.
Stefan steht den Einrichtungen des Fonds Soziales Wien kritisch gegenüber. So etwa würden die Wohnhäuser in der Siemensstraße und der Wurlitzergasse, die wohnungslosen Erwachsenen gegen geringes Entgelt einen befristeten Wohnplatz bieten, nicht die Heranführung an reguläres Wohnen bewirken, sondern lediglich zur saisonalen Überbrückung dienen. Von keinem dieser Heime könne Stefan Positives berichten, und ihren Zweck stellt er grundsätzlich in Frage.
An der in den Hausordnungen festgelegten Verbotspolitik kritisiert er vor allen das Sex- und Besuchsverbot – und die extreme Unterschiedlichkeit bezüglich Sprachen, Klassen-Hintergründen, finanzieller Situation und Schicksalschlägen der Untergebrachten sorge in regelmäßigen Abständen für Konflikte und Übergriffe, und auch Betrug bis hin zu räuberischem Borgen, das keine Rückgabe des Verliehenen vorsehe, gäbe es. Derartige Zwischenfälle, die selbst unter obdachlosen Bekannten oft vorkommen, kennt Marc Augés «Luxusobdachloser» nicht – zu seinem Milieu gehören Schauspielschulleiter und Campingwagenbesitzer_innen, mit denen er sich in einem exquisiten Pariser Café trifft. Mit gehobener Ausstattung hätte auch ich nicht dienen können. In der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember hat Stefan in meinem Gästebett geschlafen. Seit langem mal wieder acht Stunden. Ohne Unterbrechung.