Vom Verschwinden der Stadt des Kindesvorstadt

Niedergang einer Utopie

Es war ein Vorzeigeprojekt. Von 1974 bis 2002 wurde in Weidlingau, am Westrand von Wien, «Die Stadt des Kindes» betrieben. Die Ausstellung Die Stadt des Kindes: Vom Scheitern einer Utopie im Sammlungslab #2 des Wiener Architekturzentrums widmet sich der Entstehung und Geschichte dieses einzigartigen Versuchs. Christian Egger hat sie sich angesehen.

Auf nur sehr kleinem Raum gelingt es Kuratorin Monika Platzer mit dem Ausstellen von Architekturplänen, zeichnerischen Skizzen, Originalelementen, Ephemera und sorgsam ausgewählten Videodokumentationen zur «Stadt des Kindes» dessen Geschichte nahezu umfassend zu erzählen.

Den einst anlässlich des 50. Geburtstags der Republik Österreich ausgeschriebenen Wettbewerb gewann seiner Zeit der Architekt Anton Schweighofer. Sein Entwurf sah ursprünglich auch die Erhaltung und Weiternutzung des 1971 am Areal abgerissenen Ledererschlössels vor.

Die von 1971 bis 1974 großzügig auf dem ca. 48.000 m2 großen Grundstück errichteten fünf viergeschossigen, terrassierten Familienhäuser am Waldrand waren offen angelegt und von zwei lang gestreckten Baukörpern mit Turnsaal, Hallenbad, Verwaltungs- und Wirtschaftsbereichen, mit den Freizeit- und Wohnbereichen der ansässigen Jugendlichen darüber, flankiert. Die einzelnen Bauelemente enthielten eine Fülle von Gemeinschafts­einrichtungen und Begegnungszonen, die zudem mittels Brücken und Laubengängen verbunden waren. Sie boten den Jugendlichen aus sozial schwierigen Verhältnissen eine Vielfalt an farblichen und räumlichen Erlebnissen und Bewegungsfreiräumen, die diese für ein selbstständig aktives Leben in der «echten» Stadt danach rüsten und vorbereiten sollte. Eine in der Ausstellung zentral gezeigte Wohneinheit macht die raumarchitektonischen Überlegungen und die Nutzer_innenorientierung hinter den sozialreformerischen Ansätzen Anton Schweighofers sichtbar. Sie veranschaulicht die beabsichtigte Abkehr von geschlossenen Heimsystemen hin zu familienähnlichen Wohngruppen von nur zehn Jugendlichen pro Betreuer_in.

Filmische Blicke zurück.

Geben die Modelle, Skizzen und Pläne des ehrgeizigen Projektes Auskunft über die architektonische Vision der «Stadt des Kindes», so füllen die beiden unter dem Ausstellungskapitel «Stimmen der Erinnerung» vereinten dokumentarischen Filmarbeiten utopie : freiheit – PRIVAT (Ilse Chlan und Elise Penzias, 2005) und Erinnerungen an die Stadt des Kindes (Marco Anoniazzi, 2011) sie mit lebendigen Schilderungen und Erinnerungen der Beteiligten und Bewohner_innen.

Der erste lässt unter anderem den Architekten Schweighofer selbst, den Sozialpädagogen Joe Beer, ehemalige Bewohner_innen und Anrainer_innen zu Wort kommen. Er schildert vornehmlich Vorzüge und positive Entwicklungen des Projektes und ist dabei großteils von angenehmen Rückblicken der Bewohner_innen getragen. Ilse Chlan konzentriert sich auf das Angebot an und den Austausch mit den Betreuer_innen und erzählt von den Möglichkeiten des persönlichen Rückzugs und gemeinsamen Ausgehens, von der bereichernden Durchmischung der einzelnen, sogleich alltagsstrukturierenden wie interessefördernden Freizeitgruppen mit «normalen» Kindern und Jugendlichen aus der Umgebung. Von Keramikkursen über Tischtennis oder Judo reichten dereinst die Angebote. Aber auch der Kontrast zwischen diesen positiven Erfahrungen des «freien» Aufwachsens und den Wochenendbesuchen und Ferien in großteils gewalttätigen Elternhäusern kommt zur Sprache. Und die daraus resultierenden Spannungen nach erfolgter Rückkehr.

Die zweite, in unmittelbarer räumlicher Nähe gezeigte filmische Spurensuche Erinnerungen an die Stadt des Kindes bringt widerspruchsvollere Einschätzungen und Erinnerungen zutage. Die darin befragten ehemaligen Bewohner_innen schildern die nachhaltige und nur schwer abzulegende Stigmatisierung als Heimkinder, berichten außerdem von überforderten Betreuer_innen, dem weit verbreiteten und üblichen Gebrauch von «Watschen», überhaupt von Gewalt und sexuellen Übergriffen unter den Bewohner_innen. Auch vom von den Betreuer_innen weder registrierten noch weiter thematisierten Drogenmissbrauch ist die Rede und von den Problemen, später, im Erwachsenenleben, trotz und nicht wegen dem Aufwachsen in der Stadt des Kindes, zurechtzukommen. Ab Beginn der 1990er-Jahre, das legt der Film zumindest nahe, verabschiedet man sich in der «Stadt des Kindes» von den eigenen ursprünglich fortschrittlichen pädagogischen Reformideen zunehmend. Die zu dieser Zeit begonnene und 2004 schließlich abgeschlossene Reform «Heim 2000» besiegelte im Jahr 2002 das Schicksal «Der Stadt des Kindes». Das darin festgelegte Ziel, alle Großheime zu schließen und stattdessen dezentrale Wohngemeinschaften und Krisenzentren in Wien zu errichten, bedeutete das Ende des einstigen Prestige-Jugendwohnprojektes.

Profitgelüste versus Denkmalschutz.

Welche turbulenten Widmungs- und Renovierungsvorhaben die nachfolgenden Jahre bestimmen sollten, umreißt der im Abschnitt «Ort der Erinnerung» gezeigte Film Erinnerungsort – Stadt des Kindes aus dem Jahre 2009 von Christoph Kolar. Darin wird die euphorische Berichterstattung zur Eröffnung 1974 mit Führungen des Architekten Anton Schweighofer zur Zukunft und zum Erhalt seines berühmtesten Baus um 2008 kontrastiert. Im Jahre 2004 erfolgte der Verkauf des gesamten Areals um 4,7 Millionen Euro an die Wohnbauunternehmen Mischek AG und Arwag Holding AG. Anstelle der damaligen Überlegungen, die Stadt des Kindes zu einem Pilotprojekt der Sanierung der Moderne in Österreich zu machen, wurde vier Jahre und einige kurzfristige Zwischennutzungen später, im August 2008, mit dem Abriss der 2002 bewusst nicht unter Denkmalschutz gestellten Gebäude begonnen. Es ist das Verdienst des Architekturzentrums Wien, während des Abrisses die nun in der Ausstellung gezeigten dreidimensionalen Einzelobjekte des Leitsystems und die komplette Jugendeinrichtung gerettet zu haben. Die unter Protest einer UNESCO-Expertenkommission begangene Abtragung von 70 Prozent des Gebäudes kam einer irreversiblen Amputation dieser weltweit einmaligen Anlage gleich. Nur zwei der vormals fünf Familienhäuser, das Schwimmbad und die Turnhalle wurden in die in den Jahren 2011 bis 2013 von der ARGE Stelzhammer/Weber realisierten Wohnanlage der nunmehrigen Miet- und Eigentumswohnungen der gehobenen Kategorie integriert. Bei der Sanierung der Originalbauten wurde freilich nicht nach denkmalpflegerischen Vorgaben vorgegangen.

Abgesang und ewiger Verlust.

Im Abschnitt «Ort der Erinnerung», der diese äußerst informative und aufwühlende Ausstellung abschließt, erfährt die «Stadt des Kindes» einen letzten Auftritt: im Musikvideo zu dem Song Fashion der Wiener Pop-Formation Gin Ga. Im über die Ausstellung erarbeiteten Wissen um die Geschichte des Drehortes überkommen einen in der Betrachtung der Kamerafahrten durch die abbruchreifen Gebäude, weit über die musikalische Wirkkraft des Liedes hinaus, Gefühle der Beklommenheit, die sich nicht nur aus der Empathie gegenüber den dieser Institution entwachsenen Menschen und ihren Biografien ergeben, sondern einen zudem ratlos angesichts des kurzsichtigen wie kaltschnäuzigen Umgangs der Stadt Wien mit seiner eigenen jüngeren Architekturgeschichte zurücklassen.

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