Vom Wettlauf der Satire mit der RealitätArtistin

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 6

Kraus hatte den schärfsten Blick für das Niedere, Lächerliche, Verlogene, Armselige, das sich in Drucklettern, in Buch und Zeitung manifestiert, und eine überlegene Kunst, es in satirisches Licht zu rücken, in ein Licht von erbarmungsloser, zerstörender Grellheit.

Alfred Polgar

„Blendwerk der Hölle! was ist das? Was ist, habe ich erfunden. Jetzt rächt es sich und äfft mich nach. (…) Die Satire konnte dem Leben keuchend nicht mehr nachkommen jetzt jagt das Leben hinter der Satire einher. Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß.“

Karl Kraus

Friedrich Schiller bestimmte den Gegenstand der Satire im Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale. Doch dieses Ideal hatte in der Geschichte der Satire oft die Gestalt gewechselt. Von Juvenal bis Jonathan Swift war es noch wertkonservativ in gottgegebener ständischer Ordnung aufgehoben, der gegenüber die Geldwirtschaft der bürgerlichen Emporkömmlinge den Sündenfall bedeutete. Swift konnte bereits im England des 18. Jahrhunderts das wahre Antlitz der neuen Kapitalistenklasse beobachten, die so mächtig war, dass sie keiner Revolution und auch nicht des Pathos von Egalité, Liberté, Fraternité bedurfte, um die Welt in Waren zu verwandeln. In Frankreich und Deutschland indes durften sich die Söhne des Bürgertums wie Schiller, weil am Gängelband des Adels, die heroische Naivität leisten, ihr Ideal aus einem verklärten Naturzustand abzuleiten, in welchem der Mensch frei und edel sei. Wie diese Natur tatsächlich beschaffen war, die sich in freiem Wettbewerb der freien Individuen erneut entfesselte, nämlich als Wolfsnatur, zeigten Manchester-Kapitalismus und Imperialismus. So lagerten jüngere Generationen der Satire ihr Ideal in eine zukünftige, erst herzustellende, sozialistische Gesellschaft aus.

Bei oberflächlicher Betrachtung von Karl Kraus Lebenswerk ist man sich nie sicher, von welcher dieser drei Ideale aus er der Wirklichkeit widerspricht. Daher die Verwirrung und Enttäuschung derer, die in ihm einen Mitstreiter der konservativen wie auch der progressiven Sache sehen wollten. Doch es gibt eine Lösung. Und die hat Theodor Adorno mit einem kurzen Satz angeboten, der so brillant ist, dass ich ihn für den Schluss des Texts aufhebe.

Adorno zufolge verlor Satire überhaupt ihre Legitimation, da sich in der modernen verwalteten Welt jene Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit aufgelöst habe, aus der die Satire einst ihre moralische Kraft bezog. Satire sei Bestandteil dessen geworden, was sie kritisiere. Denn ihr Witz und dessen Verständnis setzten einen Konsens richtiger Werte voraus, von dem aus gesellschaftliche Verhältnisse als falsch empfunden würden, diese Positivität sei allerdings selbst schon in Ideologie umgeschlagen. Kein Witz von Karl Kraus, schreibt er, zaudert in der Entscheidung, wer anständig und wer ein Schurke, was Geist und was Dummheit, was Sprache und was Zeitung sei. Doch dass er nicht zaudert, könnte man Adorno entgegenhalten, der selbst nie zaudert, was nun falsches und was richtiges Bewusstsein sei, ist noch kein Beweis dafür, dass Kraus sich positiv auf einen beglaubigten Wertekatalog berufe.

Geht man wie Adorno davon aus, Individualität könne nur noch Selbstüberschätzung sein in einer Welt, die den Menschen unentrinnbar zur Konsumptions- und Produktionsvariable verkürzt, so verkommt die ironische Haltung des Satirikers in der Tat zum Dekor falscher Subjektivität. Einzig in rationaler Analyse und radikaler Ästhetik sah Adorno letzte Bastionen des Widerstands. Schwer sei es, eine Satire zu schreiben, meinte er in Umdrehung eines Diktums des römischen Satirikers Juvenal, und empfahl einzig den blutigen Ernst, die begriffene Wahrheit.

Doch was der Philosoph 1947 auch gegen Kraus beargwöhnte, hat ihm dieser schon 1902 nachfühlen können, als er schrieb: Ich ringe nach Worten und bekenne wieder einmal die Ohnmacht satirischer Betrachtung, die sich vergebens müht, den grandiosen Humorkontrasten der Wirklichkeit literarischen Ausdruck aufzuzwingen. Denn das difficile est satiram non scribere ist allemal eine hochmüthige Ausrede derer gewesen, denen es schwer fiel, eine Satire zu schreiben. Wo aber das Leben dem übertreibenden Humoristen nichts mehr übrig gelassen hat, wo es Pointen sprüht und Antithesen druckreif gestaltet, da ist alles andere leichter als eine Satire zu schreiben. Und so bleibt dem Unglücklichen, von dessen Temperament mans dennoch erwartet, und in dessen Antlitz man die jedem Ereignis entsprechende Hohnfalte sehen will, nichts übrig, als trocken zu erzählen, wie alles sich begeben hat.

Seit Beginn seines Kreuzzugs gegen die verhassten Verhältnisse war sich Kraus wohl der Probleme der satirischen Methode bewusst, der Gefahr etwa der bloßen humoristischen Verdopplung des Lächerlichen und der falschen Verbiederung seiner Mitlacher. Die Qualität seiner Werke erwuchs eben aus der übermenschlichen Anstrengung, diese Probleme zu meistern, sich nie vereinnahmen zu lassen, schon gar nicht von seinen Anhängern, und selbst in der Pose spielerischsten Amüsements keinen Zweifel offen zu lassen, dass er die verhasste Realität nicht necken, sondern vernichten wolle ein verlorener Posten freilich in einem Land, wo nix so gmeint ist, wies gsagt wird.

Vielleicht aber war Karl Kraus der Letzte, der aus dem Wettlauf der Satire mit der Realität als Sieger hervorging. Ein kurzer Einblick in sein Waffenarsenal.

Kraus Waffenarsenal

Die Satiretheorie der Neuzeit unterschied gerne zwischen der ironisch-distanzierten und der aggressiveren moralischen Satire. Erstere ordnete sie modellhaft dem römischen Dichter Horaz zu, letztere Juvenal. Ein ironiefreier Geist wie Friedrich Schiller verkürzte diesen Unterschied auf die scherzhafte, lachende und pathetische oder strafende Satire, welche einzig die Eintrittskarte zum Erhabenen besitze. Ein Antagonismus, dem sich Karl Kraus beharrlich entzieht. Weil zuallererst die ästhetische Form und nicht die gute Absicht zählt, nahm er an Nestroy geschult die scherzhafte in den Dienst der strafenden Satire und erwies sich als Meister beider Formen. Seine unnachahmliche Leistung bestand darin, elegante Ironie schon allein wegen der Möglichkeiten ihrer Gestaltung den Dandys entwendet und von seinem ethischen Programm überzeugt zu haben. So ließ Kraus den Hammer seines satirischen Pathos gerne auf die Köpfe der Dekadenten niedersausen und durchstach Moralisten mit dem Florett des amoralischen Stutzers. Weil der intellektuelle Mob hinter seiner Empörung stets die seelische Verwundbarkeit witterte, immunisierte er sich bisweilen mit dem Habitus heiterer Indifferenz, was seine Feinde noch mehr gegen ihn aufbrachte. Kraus Texte sind dermaßen sorgfältig vermint, dass es weder Konsumenten mit bloßem Bedürfnis nach Fun noch nach intellektueller Überlegenheit je zum Kern seiner Witze schaffen, diejenigen aber, welche seinen Gleichklang von ethischem Anspruch, analytischer Trenn- und sprachlicher Treffschärfe zu hören lernen, mit unerschöpflichem Spaß belohnt werden.

Kraus bediente sich des gesamten seinerzeit zur Verfügung stehenden Arsenals satirischer Mittel: der Beleidigung, der Polemik, der Übertreibung, des Aphorismus. Er blamierte die Presse in ihrem Seriositätsanspruch durch Lancieren phantasievoller Falschmeldungen (der so genannten Grubenhunde). Und er tüftelte unentwegt an neuen, immer subtileren satirischen Mitteln, um seiner Ohnmacht Herr zu werden, bloß ein monomanischer Parodist der Realität und somit wider Willen deren Pausenclown zu sein. Die höchste Schlagkraft erzielte Kraus dadurch, seine Gegner sich selbst schlagen, in die eigenen Tonfallschlingen treten zu lassen, durch souveräne Passivität, eine Art satirischen Aikidos wie etwa in den Übersetzungen aus Harden, der Übertragung geschwollener Phrasen des populären Publizisten Maximilian Harden (Desperanto) in ein klares Deutsch, oder mit seinen Glossen: kurzen, pointierten Kommentaren zu verräterischen Originaltexten aus Presse, Literatur und Justiz. Der Fackel-Abonnent wurde nach Jahren der Gefolgschaft für reif genug gehalten, auch ohne die Kommentare des Satirikers, der durch sein Schweigen allmächtig präsent blieb, auszukommen.

Diese Methode, so Bertolt Brecht in seinem Aufsatz über Kraus, setze den Aufbau eines Raumes voraus, in dem alles zum Gerichtsvorgang wird. Der sie anwendet, muss einzig durch seine große Autorität instand gesetzt sein, sein Schweigen zu einem Urteil zu machen. Damit sein Schweigen auffällt, darf keines anderen Rede erwartet werden. Und seine Einstellung muss bekannt sein, an vielen Beispielen erwiesen und durch kein einziges zweifelhaft.

Die doppelte narzisstische Kränkung

Die materialistische Kritik warf ihm bisweilen vor, seine Satire entbehre des analytischen Gehalts, er beschränke sich auf die Polemik gegen Einzelmenschen und gehe nicht der Ideologie im Allgemeinen ans Leder. Doch kein Witz bei Kraus, der es wagte, ohne geistige Durchdringung seines Objekts einen Lacher zu provozieren. Die Analyse ist in die Zellkerne seiner Sprachkunst eingelassen, er betreibt nichts anderes, als was die Philosophie Immanente Kritik nennt. Sich ans Konkrete zu heften, gehört nun mal zu den Formgesetzen der Satire. In der Abstraktion verblasst sie.

Kraus Satiren sind einzig im Feld der Justiz reformatorisch, ansonsten strikt destruktiv. Er köpft folglich nicht, damit bessere Köpfe nachwachsen, sondern will das System schädigen, indem er es aus dessen Hälsen bluten lässt.

Seine Opfer erleben die Schmach der doppelten narzisstischen Kränkung: zuerst als vermeintliche Person angegriffen zu werden, gefolgt von der demütigenden Einsicht, nicht einmal als Person gemeint zu sein, sondern nur als austauschbares Abziehbild vorherrschenden Ungeistes.

Und so überlistet Kraus die Realität, indem er realen Figuren das Zorro-Zeichen seiner kritischen Phantasie einritzt und sie dazu verdammt, in Hinkunft mit jedem Wort, mit jeder Geste Satiriker wider Willen zu sein. Kann ich dafür, dass es den M. wirklich gibt? Habe ich ihn nicht trotzdem erfunden? Wäre er Objekt, ich wählte besser. Erhebt er Anspruch, von der Satire beleidigt zu sein, beleidigt er die Satire.

Wesen und Erfolg meiner polemischen Satire, triumphiert Kraus, beruhen in dem Phänomen, dass der von ihr Getroffene fortlebt, um ihre Berechtigung zu erweisen. Wie alles von mir herausgearbeitet wurde, hält es ihn in der Bahn fest, verführt ihn zur Übertreibung, und der Unfug seiner ferneren Existenz erscheint auch solchen sinnfällig gemacht, die bis dahin nichts gemerkt und sich eher am Abbild als an der Natur gestoßen haben. () Was ich als Zitat der Wirklichkeit entnahm, schreitet jetzt an ihr als Zitat aus meinem Text vorbei, und was bis dahin meine Karikatur war, erscheint als natürliches Motiv in jene übernommen.

Zum Schluss zur Streifrage, ob Kraus nun in der Tradition der wertkonservativen oder der progressiven Satire steht und zur oben versprochenen Antwort Theodor Adornos. Eine Antwort, die so prägnant ist, dass sie Tonnen von Sekundärliteratur erübrigt und folglich viel Zeit zum Selberdenken schenkt. Immanente Kritik, schreibt er, ist bei ihm stets die Rache des Alten an dem, was daraus wurde, stellvertretend für ein Besseres, das noch nicht ist.

Doch ist Satire als Mittel der Gesellschaftskritik, wie Adorno mit plausiblen Argumenten moniert, wirklich überholt? Adornos Verdikt gegen Witz, Ironie und Humor wurde ihm oft von Dummköpfen als die Humorlosigkeit eines verbitterten deutschen Professors ausgelegt, der in den Keller lachen geht. Bloß wollte er uns zeigen, dass unsere Lebenswelt ein einziger trostloser Keller ist, allerdings mit Kunstlicht beleuchtet und falschen Glücksversprechungen austapeziert. Sogar das widerständigste Lachen halle wirkungslos von dessen Wänden wider und versöhne kathartisch mit dem Status quo. Doch was wurde aus der radikalen Kunst der Avantgarde, auf die er noch gehofft hat? Sie hängt dort selbst schon als Dekor neben Klimt und röhrenden Hirschen, ihr negativer Gestus ist zur Einstimmung aufs kalte Büffet verkommen. Sozialkritik aber fiel großteils auf jenen moralischen Standpunkt zurück, der dem gesichtslosen Kapitalismus menschliche Antlitze aufpinseln und den Armen Brot geben will, damit sie den Sozialkritikern nicht den Kuchen wegessen.

Und so sind und bleiben der frech tändelnde Nestroy und der elegant strafende Kraus verlässlichere Komplizen der Negativität, kein kulturindustrieller Entminungsdienst hat es bis jetzt geschafft, ihre Geistesblitze zu entschärfen.

Richard Schuberth

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