Von den Universitäten des LebensDichter Innenteil

Ein Hort der Wissenschaft (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen, 410. Folge

Der Dozent traf Herrn Groll an der Universitätsrampe am Schottenring.

«Freund Groll, was führt Sie hierher? Haben Sie vor, eine akademische Laufbahn einzuschlagen?» Er lächelte breit.

«Um Gottes willen», erwiderte Groll. «Ich hinke der akademischen Welt viele Jahre hinterher.»

«Interessant, dass gerade Sie vom Hinken sprechen …»

«Ja, das wär für unsereins schon eine Beförderung. Keine Sorge, verehrter Dozent, es wird Ihnen in mir keine Konkurrenz erwachsen, nicht auf der Alma Mater, denn ich bin seit langem ein vollständig ausgebildeter Universitätsabsolvent. Wer in den Kremser Donauauen aufwächst, diverse Randbezirke Wiens unsicher macht und schließlich in die Jedlersdorfer Steppe wechselt, dem ist nichts Menschliches fremd. Ich darf Sie auf eines der schönsten und klügsten Bücher der Weltliteratur verweisen, da finden Sie die nähere Informationen über diese Art der lebenswissenschaftlichen Expertise.»

«Interessant», meinte der Dozent und holte sein Notizbuch hervor. «Wie heißt dieses Werk?»

«Meine Universitäten», erwiderte Herr Groll, während der Dozent schrieb. «Von Maxim Gorki. Er beschreibt darin seine Jugend als Lumpensammler und Wolgatreidler. Alexej Peschkow, das war sein bürgerlicher Name – den Künstlernamen Gorki nahm er erst später an –, wurde 1868 in Nischni Nowgorod geboren. Heute ist die fünftgrößte Stadt Russlands halb so groß wie Wien, sie geht auf eine traditionsreiche Festung und eine große Handelsniederlassung am Oberlauf der Wolga zurück. Von 1932 bis 1990 trug sie, dem Schriftsteller zu Ehren, Gorkis Namen. Was einer kuriosen Dimension nicht entbehrt, denn Gorki heißt: ‹der Bittere›, und welche Stadt schmückt sich schon gern mit einem derartigen Namen.»

«Na ja, es gibt Braunau …», warf der Dozent ein. «Geburtsort Hitlers zu sein, ist ein Pech, aber wenn dann noch die Vorsilbe braun …»

Er könne sich an eine großartige Inszenierung der «Kinder der Sonne» von Achim Benning im Jahr 1989 im Akademietheater erinnern, bemerkte der Dozent. «Sie sprachen von einem mächtigen Freund, der sich um Gorkis Gesundheit sorgte.»

«Die Welt kennt auch ihn unter einem Künstlernamen: Wladimir Iljitsch Uljanov vulgo Lenin», sagte Groll.

«Oh», sagte der Dozent. «Das hätte ich eigentlich wissen müssen.»

«Keine Ursache», sagte Groll großzügig. «Ich kann mit Ihrer Bildungslücke recht gut leben.»

Das sei sehr freundlich von ihm, gab der Dozent mit einer leichten Verneigung zurück. «Und was, geschätzter Groll, führt Sie jetzt an die Universität?

«Franz Grillparzer», sagte Groll. «Jetzt ist er hundertfünfzig Jahre tot, da wird es Zeit, dass ich etwas von ihm lese. Ich dachte, ich fange mit etwas Leichtem an, der Novelle Das Kloster bei Sendomir. Aber seltsamerweise gibt es das Buch bei keinem einzigen österreichischen Verlag.»

«Probieren Sie es doch bei Amazon», warf der Dozent ein.

«Das geht nicht», wehrte Groll ab. «Bücher sind für mich Lebensmittel. Ich lasse mir ja von Amazon auch keine zehn Dekagramm Braunschweiger schicken. Bis die in Floridsdorf ankommen, haben sie ihren unvergleichlichen Geruch längst eingebüßt, vom Geschmack nicht zu reden. Nein, ich kaufe Bücher prinzipiell beim zuständigen Fachhändler. Dumm ist nur, wenn der Fachhändler nicht liefern kann, weil es die Bücher nicht gibt. Dann muss ich mich in ein Antiquariat bemühen oder eben auf eine Bibliothek. Ich hoffe doch, dass die Universitätsbibliothek im Besitz eines Exemplars von Grillparzers Novelle ist.»

«Da bin ich zuversichtlich. Falls Sie aber wider Erwarten auch hier scheitern sollten, empfehle ich Ihnen die Nationalbibliothek. Dort finden Sie Ihren Grillparzer sicher, schließlich ist er ja der österreichische Nationaldichter.

«Sie wissen, ich hab es nicht so mit dem Nationalen. Ich halte es lieber mit den Wissenschaften. Daher die Universitätsbibliothek.»

Der Dozent nickte, klappte sein Notizbuch zu und wünschte seinem Freund Glück.