Von der Geschichte vergessenArtistin

Paco Rocas eindrucksvoller Oral-History-Comic «Die Heimatlosen»

Verzagte, gehetzte Gesichter von Frauen, Kindern, Männern. Dicht aneinandergedrängt warten tausende Flüchtlinge verzweifelt und doch mit einem letzten Rest an Hoffnung darauf, dass am Horizont vielleicht ein Schiff erscheinen könnte, um sie zu retten. Man glaubt, unser Mitarbeiter Martin Reiterer setzt hier zu einer Gegenwartsgeschichte an. Doch die Geschichte geht wie folgt weiter …

Die Zeit drängt, denn ihre Verfolger könnten jeden Moment eintreffen. Dann wäre es zu spät. Es könnte unsere Gegenwart sein, doch – Geschichte scheint sich in Variation zu wiederholen – es ist ein anderer Schauplatz: Alicante, spanischer Mittelmeerhafen, 28. März 1939. Schließlich trifft ein Dampfer ein: Während die «Stanbrook» brechend voll mit gut 2600 Flüchtlingen den Hafen verlässt, müssen über fünfzehntausend Gegner des faschistischen Franco-Regimes zurückbleiben. Ein weiteres Rettungsschiff wird nicht in den Hafen einlaufen. Einige der Wartenden stürzen sich in ihrer äußersten Verzweiflung in den Tod. Wenige Tage später wird Franco das Ende des Bürgerkriegs und damit den Sieg über seine republikanischen Gegner ausrufen.

In Paco Rocas Oral-History-Comic erzählt der über neunzigjährige Zeitzeuge Miguel Ruiz mit erstaunlicher Genauigkeit die unglaubliche und wechselhafte Geschichte seiner Flucht nach dem Spanischen Bürgerkrieg, die mit der Geschichte seines Widerstands gegen den Faschismus untrennbar verbunden ist. Die «Stanbrook» brachte den überzeugten Anhänger der spanischen Republik nach Algerien, wo die Flüchtlinge zuerst wochenlang das Schiff nicht verlassen durften. «Nach allem, was wir erlitten hatten, und nach unserem erbitterten Kampf gegen den Faschismus, dachten wir, man würde uns mit offenen Armen empfangen.» Danach beginnt eine mehrjährige Odyssee durch Nordafrika zwischen Flüchtlingslagern und Zwangsarbeit.

Was Ruiz und seine Freunde all die Jahre der Unsicherheit, der Entbehrung und Erniedrigung am Leben hält, ist die Hoffnung, zurückzukehren und ihr Heimatland Spanien von dem faschistischen Regime zu befreien. Ein Aufruf des französischen Generals und späteren Staatsmanns Charles de Gaulle im Juni 1940 bestärkt sie in ihrem Glauben: «Das letzte Wort ist nicht gesprochen!» Was de Gaulle von London aus der im Bann des Nationalsozialismus gefallenen französischen Republik verspricht, beziehen die spanischen Anarchisten und Republikaner auch auf das Schicksal ihres Heimatlandes. «Die Flamme des Widerstands wird nicht erlöschen.» Mit dem Endziel Wiederherstellung der Spanischen Republik im Blick kämpfen die Spanienflüchtlinge zuerst in Nordafrika gegen die Ausbreitung des Faschismus, bevor sie mit General Leclerc im Juni 1944 in der Normandie landen und schließlich auf Beschluss de Gaulles nach Paris vordringen. Im August des Jahres gelingt es den Alliierten, das besetzte Frankreich von den Nationalsozialisten zu befreien. Unter den ersten, die in Panzern die Hauptstadt erreichten, befanden sich Ruiz und andere Soldaten der «La Nueve», der neunten Kompanie, die zum Großteil aus spanischen Kämpfern bestand.

Ein fürchterlich berührendes Ende

Hat General de Gaulle an den Tagen der Befreiung von Paris den erfahrenen Spanienkämpfern gegenüber seine Wertschätzung für ihren Einsatz und Mut mit persönlichen Dankworten zum Ausdruck gebracht, so ist eine gebührende Würdigung nach dem Krieg der nationalen Geschichtsschreibung zum Opfer gefallen. Ausdruck dieser Nichtanerkennung ist im Übrigen auch die Tatsache, dass die Alliierten es bevorzugten, das faschistische Regime Francos zu akzeptieren, statt den Widerstand dagegen zu unterstützen. Dass Roca sich dieser Gruppe von Vergessenen der Geschichte gewidmet hat, ist an sich eine bemerkenswerte Leistung, die sich durch historische Zuverlässigkeit, Detailgenauigkeit und eine lebendige Anschaulichkeit auszeichnet.

«Die Heimatlosen» erzählt jedoch noch eine andere Geschichte: die der Annäherung des Autors und Zeichners an den Erzähler Ruiz. In den lediglich schattenhaft kolorierten Zeichnungen, die mit der dunkelfarbenen Kolorierung der Erinnerungen Miguel Ruiz’ kontrastieren, drückt sich die Vorsicht des Herantastenden aus. Am Anfang dieser Begegnung steht nämlich Ablehnung und Widerstand gegen das Erzählen vonseiten des von der Geschichte Vergessenen. «Ich hab nicht viel zu erzählen.» Die gesellschaftliche Geringschätzung und Entwertung, die seiner Person und seinen Leistungen wiederfahren ist, hat dieser längst verinnerlicht. Mit viel Feingefühl und Beharrlichkeit gelingt es Roca, das Vertrauen dieses Mannes zu gewinnen, der sich schließlich nicht allein seiner eigenen Geschichte, sondern auch die vieler anderer europäischer und afrikanischer Ausländer besinnt, die «alle gleichermaßen von der offiziellen französischen Geschichte ignoriert (wurden)». Umso berührender ist das Ende des 320 Seiten starken Comics, als sich Ruiz bei Roca dafür bedankt, dass er ihm einen Teil seines Lebens «wiedergegeben» hat, «an den ich mich nicht zu erinnern traute».

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